Ein Stück Kongo in der Tasche

Michael Benner

Jeder von uns hat ein Stück Kongo in der Tasche, sagte Junior Nzita, der ehemalige kongolesische Kindersoldat, der in unserer Schule von seinem Leben erzählt hat. Nicht anklagend sondern freundlich, aufklärend, allerdings in der leisen Hoffnung, dass dieser Satz etwas bewirken möge. Das Stück Kongo steckt in unserem Handy, in unserem iPhone. Es ist das seltene Coltan.

Man kann sich damit abfinden: Alles, was wir konsumieren, kommt irgendwo her und wurde von irgendjemanden produziert. Das ist doch ganz normal. Verantwortlich sind die Hersteller und die Gesetzgeber. Was hat das mit uns zu tun? Wir sind doch nur die Endverbraucher.

Ja, sagt Junior Nzita, aber das Coltan, das für die Handy-Produktion benötigt wird, kommt aus den Gebieten des östlichen Kongo und diese Gebiete sind im Bürgerkrieg versunken, weil der Kampf um die seltenen und begehrten Rohstoffe zum Kampf aller gegen alle geführt hat. Und in diesem Kampf werden die leicht steuerbaren und billigen Kindersoldaten eingesetzt. Und vielleicht hat ein Trupp von Kindersoldaten die Mine abgesichert, aus der das Coltan für mein Handy stammt. Vielleicht haben diese Kindersoldaten sogar deutsche Waffen benutzt oder sind durch deutsche Waffen umgekommen und ich habe, natürlich ohne es zu wollen, von den Steuern profitiert, die die deutschen Waffenhersteller an den Staat gezahlt haben. Im Jahr 2010 exportierte die Bundesrepublik laut Rüstungsexportbericht Kriegswaffen im Wert von 2,6 Milliarden US-Dollar. Damit rangiert Deutschland als Waffenexporteur hinter den USA und Russland an dritter Stelle. Vielleicht ist ein Flüchtling, um den wir uns gerade kümmern, vor deutschen Waffen geflohen. Ja, aber dafür bin ich nun wirklich nicht verantwortlich.

Sicher hat kein Elternteil und kein Lehrer eine Aktie eines deutschen Rüstungskonzerns im Depot, um von den Gewinnen der Kriegsindustrie zu profitieren. Aber was machen Bank und Versicherung mit unserem zur Zeit nicht benötigten Geld, das wir ihnen überlassen haben, in der Erwartung, dass sie es bitteschön kräftig vermehren mögen, damit wir einen möglichst komfortablen Lebensabend haben? Sie legen es an, möglichst gewinnmaximierend, weil wir das als Kunden erwarten und die Aktienbesitzer es fordern.

Haben wir denn nichts gewusst?

Sollten unsere Kinder einmal fragen: »Habt Ihr das denn alles nicht gewusst, mit dem Coltan, den Kindersoldaten und den deutschen Waffen?«, können wir nicht sagen, dass wir nichts gewusst hätten. – Wir alle stecken tiefer in den großen sozialen und ökologischen Problemen dieser Welt, als wir uns im Alltag bewusst machen (wollen). Läge der Kongo in Berlin-Moabit, die meisten von uns würden Sturm laufen, denn wir laufen ja auch Sturm, wenn Frauen an Silvester vor dem Kölner Hauptbahnhof begrapscht werden, und das zu Recht. Das System funktioniert, weil die Schöpfung von »Mehrwert« durch die weltweit verschachtelten Beteiligungen des Kapitals ein so anonymer Prozess geworden ist. Dadurch rücken die Probleme der Welt weit weg von dem einzigen Ort der Welt, an dem sie erfolgreich bearbeitet und gelöst werden könnten: von uns selbst als empfindenden, denkenden und handelnden Menschen.

David gegen Goliath

Tim und Kilian aus der 11. Klasse schrieben einen Beitrag im Maerker, der Schulzeitung unserer Schule Märkisches Viertel Berlin. Sie wollen die Anzahl der neu gekauften Handys und iPhones und damit den Abbau von

Coltan reduzieren, indem sie eine Handytauschbörse eröffnen. Dort kann jeder für kleines Geld ein Handy erwerben, vorausgesetzt, er gibt sich mit dem zweitschicksten Modell zufrieden – was sicher nicht schwerfällt, wenn wir an die sterbenden Kindersoldaten denken. Einer, der überlebt hat, ist Junior Nzita. Er hat uns dabei geholfen, aktiv zu werden. Junior Nzita besuchte unsere Schule und die Schülerinnen und Schüler der Mittel- und Oberstufe hörten ihm zwei Stunden lang konzentriert zu.

Junior Nzitas Schule wurde von Soldaten über­fallen, die Lehrer getötet, die Kinder in geschlossene LKWs verladen, damit sie nicht sahen, wohin sie gebracht wurden. Dann begann nach kurzer »Ausbildung« die »Arbeit«. Junior Nzita war zwölf. Dass man getötet wird, wenn man die »Arbeit« verweigert, die darin besteht, andere zu töten, das hatte er schnell begriffen. Junior Nzita wurde ein erfolg­reicher Kindersoldat.

Er berichtete: »In meinem Land sind in den Bürger­kriegen der vergangenen Jahrzehnte rund 30.000 Kindersoldaten eingesetzt worden. Die sind billiger und gefügiger als erwachsene Soldaten und eignen sich gut als Kanonenfutter. Als wir später nach Angola in die Minenfelder geschickt wurden, kehrte gerade mal jeder Zehnte von uns zurück.

Zu Beginn der Ausbildung wird man in sein eigenes Dorf geschickt, um dort Freunde oder Verwandte umzubringen. Danach gibt es kein Zurück mehr. Selbst wenn einem die Flucht aus dem Camp gelingen sollte – wohin soll man dann noch? Ich weiß von vielen Kindersoldaten, die zwar den Krieg überlebt haben, aber nicht die Zeit danach, weil die Menschen aus ihrem Dorf Rache an ihnen genommen haben«.

Gibt es Hass in ihm? Kann er verzeihen? Eine äußerst wichtige Frage für die Schüler. Jeder im Raum hätte verstehen können, wenn Junior Nzita gesagt hätte, dass er denen, die seine Kindheit zerstört haben, niemals verzeihen könne. Aber er kann. Wie das geht, bleibt als Rätsel im Raum, das alle mit nach Hause nehmen. Es gibt Kraft, dass Junior Nzita sagt, dass er es geschafft hat, denn sonst ginge die Spirale der Gewalt immer weiter.

Was tut Junior Nzita heute? Er ist UNO-Sonderbotschafter gegen Kindersoldaten. Er setzt sich für die Ächtung des Einsatzes von Kindern in bewaffneten Konflikten ein, sprach vor dem UNO-Sicherheitsrat, ist in Kontakt mit Ban Ki-Moon und war Hauptredner vor dem EU-Parlament zu diesem Thema. 2010 gründete er die Organisation »Paix pour l’enfance« in der Demokratischen Republik Kongo, um Kinder, die durch kriegerische Aktionen zu Waisen geworden sind, aufzufangen und Trauma-Arbeit mit ihnen durchzuführen. Er ist erfolgreich. Schließlich ist er Fachmann. Seit 2012 unterstützt er viele Aktionen in Afrika und Europa im Rahmen der UN-Kampagne »Enfant, pas soldat«.

Junior Nzita wird umworben, weil er sich als Aushängeschild gut macht. Doch er hat dafür ein feines Gespür und schlägt lukrative Angebote aus. Junior Nzita hat Rückgrat – statt ein gebrochener Mensch zu sein. Das gibt auch uns Aufrichtekraft. Als er nach drei Veranstaltungen an diesem Tag geht, hat er Freunde gefunden. Das genau ist es, was er erreichen möchte: nachdenkliche, gestärkte Schüler.

Zu uns kam Junior Nzita wegen Yannick aus der 8. Klasse. Yannick hatte als Neunjähriger eine Ausstellung über »Kindersoldaten in Zentralafrika« gesehen. Seitdem hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Nun wurde es das Thema seiner Jahresarbeit. Wir haben gemeinsam die Veranstaltung mit Junior Nzita geplant.

Aus dem Besuch ist ein Impuls geworden und ein Sonderheft des Maerker entstand. Bestellt werden kann es in Papierform oder als Datei bei unserer Mit­-arbeiterin Kerstin Thiele (Thiele@waldorfschule-mv.de) ‹›

Zum Autor: Michael Benner unterrichtet Geschichte, Sozialkunde und Geographie an der Freien Waldorfschule Märkisches Viertel in Berlin und gründete die klassenübergreifende Mineralienhandelsgesellschaft Schülerfirma Steinbrücke GbR.

www.steinbruecke.de | www.sinnestäuschung-gibt-es-nicht.de

Hinweis: Junior Nzita Nsuami schrieb das Buch »Wenn ich mein Leben als Kindersoldat erzählen könnte«, das beim Deutschen Versöhnungsbund bestellt werden kann: www.versoehnungsbund.de/buch/1503, ISBN: 978-3-906821-01-6