Einer, der mit Kindern wächst

Mathias Maurer

Heute weiß er, dass man als 20-Jähriger notgedrungen zum Archäologen seiner selbst werden muss, um herauszufinden, was man mit seinem Leben anstellen möchte. Dann stieß Lienhard Valentin auf die Bücher von Hermann Hesse und Erich Fromm. Und durch sie auf die buddhistische Achtsamkeitspraxis, die Alexander-Technik und die Gestalt-Arbeit. Jetzt nahmen Valentins Ziele Konturen an und es kam Tempo in sein Leben. Er begegnete den Montessori-Päda­gogen Rebeca und Mauricio Wild aus Ecuador mit ihrem Ansatz der »nicht-direktiven Begleitung«, der Arbeit der ungarischen Kinderärztin und Kleinkindpädagogin Emmi Pikler, dem amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn vom Center for Mindfulness in Medicine, Health Care and Society (CFM) an der University of Massachusetts.

In dieser Zeit trieben ihn besonders die Fragen um: Können Aufwachsen und Bildung nicht ganz anders verlaufen? Wie kommt es, dass aus aufgeweckten Kindern Null-Bock-Menschen werden? Gibt es denn keine Wege, die Kinder so ins Leben zu geleiten, dass sie sich selbst sein können? Wie können wir ihren lebendigen Forschergeist am Leben erhalten und unterstützen?

Lienhard Valentin gründete den Verein »Mit Kindern wachsen«, um über neue Ansätze im Leben mit Kindern zu informieren, und begründete die gleichnamige Zeitschrift.

Valentin beschäftigte sich intensiv mit den Begründern der Gestalttherapie Fritz Perls und Paul Goodman und fand in der »Essentiellen Gestaltarbeit« von Katharina Martin eine innere Orientierung, die er bis dahin schmerzlich vermisst hatte: »Nur wenn ich mit meinem inneren Selbst in Kontakt bin, kann ich mich für die echten Bedürfnisse des Kindes öffnen. Was ein Kind für seine Entfaltung braucht, steht in keinem Buch und ist in keinem pädagogischen Konzept zu finden, sondern zeigt sich mir nur in der direkten Verbindung.« Dabei handle es sich nicht so sehr um das, was wir üblicherweise Denken nennen, sondern um ein nonverbales Erfassen und Verständnis zwischen dem Kind und dem Erwachsenen – ein »inneres Sehen«, das man ausbilden könne. Dieses innere Gewahrsein erfahre man als ein gefühltes intuitives Wissen. Die Einsichten, die Valentin durch die Schulung des Einfühlungsvermögens gewinnt, werden durch die Bindungs- und Gehirnforschung bestätigt. Nicht von ungefähr kreuzten sich die Wege Lienhard Valentins mit dem Heilpädagogen Henning Köhler, der ebenfalls von »fühlender Wahrnehmung« spricht, oder den Gehirnforschern Gerald Hüther und Daniel Siegel. Letzterer macht zum Beispiel deutlich, dass in einer sicheren Eltern-Kind-Beziehung ähnliche neuronale Strukturen in Gehirn ausgebildet werden, wie bei der Achtsamkeitsmeditation.

Doch dann kam die Prüfung: Er wurde selbst Vater und er musste schnell feststellen, dass sein Sohn all die Bücher nicht gelesen hatte und die schönen pädagogischen Konzepte nicht kannte. Jetzt erlebte er konkret: »Jedes Kind ist ein Land für sich und auch ich kam an meine Landesgrenzen.« Seine Erfahrung zeigte ihm deutlich, dass selbst die besten pädagogischen Ansätze nur Landkarten sein können. »Im entscheidenden Augenblick der Begegnung mit dem Kind, muss ich sie aus der Hand legen, sonst geschieht es leicht, dass auch die schönste Landkarte zwischen mir und dem Kind steht und ich nicht mehr wirklich in Kontakt bin.« Valentin begann, mit Kleinkindpädagogen an mehreren Orten im In- und Ausland sogenannte »Mit-Kindern-wachsen-Entdeckungs-Räume« für Eltern und Kinder anzubieten. Dort lernen junge Mütter und Väter wieder, sich selbst und der Entwicklung ihrer Kinder zu vertrauen und – so wie es die Kleinen vormachen – ständig über sich hinauszuwachsen. Valentin ist klar, dass alle Erziehungsfragen letztlich Fragen der Selbsterziehung sind: »Doch sie muss sich von der subtilen Form der Gewalt gegen sich selbst lösen.« Alle Lern- und Entwicklungsprozesse gerieten ins Stocken, wenn man seelisch unter- oder überfordert ist.

Valentin will Eltern und Erziehern Möglichkeiten zeigen und Werkzeuge an die Hand geben, wie sie eigene Erziehungs- und Reaktionsmuster hinter sich lassen und einen freien Blick auf die Kinder bekommen können. »Kinder sind nicht die Adressaten einer gutgemeinten Pädagogik, sondern lebendige Organismen, denen vor allem die Frage ›Wie könnte ich sein?‹ förderlich ist.« Valentin geht es vor allem um die Kultivierung einer inneren Haltung, die von Achtsamkeit, Mitgefühl und Wohlwollen – auch uns selbst gegenüber geprägt ist. Auf einem solchen Boden können nicht nur Kinder, sondern auch wir selbst innerlich wachsen und zu einem erfüllten Leben finden.

Link: www.mit-kindern-wachsen.de

Literatur: Lienhard Valentin: Mit Kindern neue Wege gehen, Freiamt 2005; ders.: Achtsame Eltern – glückliche Kinder, Freiamt 2007; ders. und Petra Kunze: Die Kunst, gelassen zu erziehen, München 2011