Entspanntes Arbeitstier

Mathias Maurer

Auf dem Bochumer Bahnsteig kommt mir ein weißbärtiger Mann mit Sonnenbrille in Treckingkleidung entgegen, als käme er gerade von einer Himalaya-Expedition. Nicht ganz, wie sich gleich herausstellt – aber aus Malaysia. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Gerd Kellermann, langjähriger Lehrer in Witten, dann Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen, schließlich ein Motor des Instituts für Waldorf-Pädagogik Witten/ Annen die deutsche Waldorfschulbewegung maßgeblich mitgestaltete.

Heute verschlägt es den 69-jährigen in die ganze Welt. Er wartet, sagt er, »was auf ihn zukommt« – und es kommt einiges. Kaum pensioniert, ging es 2013 nach Südamerika, er hospitierte, beriet Kollegien und Kollegen, arbeitete zur Menschenkunde und am Lehrplan. Den Atlantik überquerte er mit dem Segelschiff, war mit Bus, Auto und zu Fuß unterwegs und wenn er nicht bei Eltern oder Kollegen unterkommt, findet er über Couchsurfing überall ein Dach überm Kopf, vorzugsweise bei Einheimischen. »So habe ich Karnevalskostüme in Französisch-Guayana genäht, die besten Cafés in Ushuaia in Patagonien mit einer gastgebenden Schriftstellerin kennengelernt und ein Seminar über soziales Bauen mit Architekturstudenten in Fortalezza veranstaltet«, erzählt Kellermann lachend.

Er machte Station in Trinidad, Cayenne, Bahia, Sao Paulo, Botucatu, impulsierte neue Initiativen und unterstützte die Arbeit in den Favelas; dann kamen Argentinien, Uruguay, Chile, Peru und Kolumbien. 13 Monate dauerte die Reise, 23 Waldorfschulen hat er besucht. 2014 folgte Australien, wo er drei Monate unterwegs war und zehn Schulen beriet und ein Achsenbruch seines Mietwagens im Outback auf dem Weg zum Uluru ihm den nächsten Auftrag in Kuala Lumpur in Malaysia verschaffte, das heißt, die Ausarbeitung eines zweijährigen Lehrerbildungskonzepts, inklusive Mentorenschulung für den Aufbau einer internationalen Waldorfschule mit 40 Klassen in Kuala Lumpur.

Von links nach rechts und zurück

Kellermann ist ein Kind des Ruhrpotts. Seine Eltern in Essen wurden dreimal ausgebombt. Sein Vater war Bergmann und Lageraufseher der Zeche Zollverein, heute UNESCO-Weltkulturerbe und Wahrzeichen der Stadt Essen. Für die russischen Gefangenen sorgte er aber so gut, dass er – nach der Befreiung durch die Amerikaner nun selbst in Haft – von den ehemaligen Insassen wieder freigesetzt wurde. Seine Mutter war leitende Kindergärtnerin im Gau Rheinland und glühende Anhängerin Hitlers. Erzogen hat ihn sein Großvater, ein alter Sozi, der nie den Mund hielt. »Der hat mich so geprägt, dass ich mich in der Schule nicht Kellermann, sondern nach ihm Herbst nannte«, erinnert sich Kellermann. Mit 16 wusste er, dass er Französischlehrer werden wollte und studierte Romanistik und Philosophie an der Uni Bochum, als Kurt Biedenkopf Rektor war und Walter Rau Wissenschaftsminister. Kellermann engagierte sich universitätspolitisch und übernahm nach dem ersten Staatexamen für sechs Jahre das Referat der Studienreformkommission für Lehrerbildung im Wissenschaftsministerium NRW.

Er war erst 22 als sein erstes Kind auf die Welt kam, denen noch drei weitere folgten. Ab da interessierten ihn zunehmend pädagogische Fragen, und »ich hatte einen ganzen Sack voll davon«. Die Kellermanns wohnten mit einer zweiten Familie in einer WG zusammen, hatten ein gemeinsames Konto, erzogen die Kinder gemeinsam und gründeten einen basisdemokratischen Kindergarten. Den wollte der Träger AWO räumen, worauf er kurzerhand von 300 Menschen besetzt wurde und die Polizei unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Seiner Frau, die dort arbeitete, wurde gekündigt. »Klar war uns damals: Kindergarten und Schule sind Staatsaufgabe. Wir Eltern wollten aber mitgestalten, starteten die NRW-Bürgerinitiative Verändert die Schule jetzt, liefen allerdings damit an unseren Schulen vor die Wand«, erzählt Kellermann. »Das gab den Ausschlag und wir suchten jetzt nach Alternativen, informierten uns: Laborschule Bielefeld, Glockseeschule Hannover, Freie Schule Frankfurt, Waldorfschulen. Letztere entdeckten wir sozusagen um die Ecke.«

Alle Kinder der WG wurden  auf der Waldorfschule Bochum-Langendreer angemeldet. »Dort wurden wir als Eltern mit offenen Armen empfangen, obwohl vieles gar nicht so unseren Ansichten entsprach, weil wir eher links waren. Meine Tochter erzählte im Aufnahmegespräch das Märchen vom elektrischen Rotkäppchen; der Lehrer nahm’s locker, sagte zum Schluss: ›Ihre Tochter nehmen wir auf, aber ob wir Sie als Eltern nehmen, müssen wir uns nochmal überlegen.‹ Das beindruckte mich«, erinnert sich Kellermann schmunzelnd.

Hier lernte er die bekannten Waldorfpersönlichkeiten Johannes Kiersch, Walter Motte und Eginhard Fuchs kennen, die auf alle seine kritischen Fragen eingingen, zum Beispiel: »Warum taucht bei Waldorfs bei der Zahl 1 im Rechenunterricht Gott auf?«

Vom Leiter zum Lehrling und zurück

Doch die Zeit schien noch nicht reif, dass Kellermann bei Waldorf auch als Lehrer einstieg. Es gab ein verlockendes Angebot im Forschungsreferat des Ministeriums, das er jedoch erst nach dem 2. Staatsexamen antreten konnte, das er im ministeriell angeordneten Eiltempo innerhalb eines halben Jahres nachholte. Dann kam die Wende: Motte fragte ihn, ob er nicht an der neugegründeten Wittener Waldorfschule als Französischlehrer einsteigen wolle. Das konnte sich Kellermann vorstellen – aber zunächst nur mit einem Teildeputat wegen seiner anderen Verpflichtungen. Die Schule lehnte ab: Begründung: Ganz oder gar nicht. Diese Haltung hat Kellermann so beindruckt, dass er ein Jahr später im Schuljahr 1980/81 ganz einstieg, »gefallen«, wie er sagt, vom Referatsleiter zum waldorfpädagogischen Lehrling. Und was ihn ebenfalls beeindruckte: »Die Schule gab mir eine volle Stelle, aber ich durfte zunächst nur zwölf Stunden unterrichten. Mein Mentor war ein wesentlich jüngerer frischer Absolvent vom Wittener Institut.«

Gleichzeitig scheute Kellermann sich nicht, Verantwortung zu übernehmen, war kurze Zeit später zusammen mit Markus von Schwanenflügel und Christoph Gögelein im Sprecherkreis der Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen. Rasch wurde aus dem »Lehrling« eine leitende Führungsperson in Waldorfgremien. Kellermann übernahm die 45-köpfige Pionier-Klasse der Schule, führte sie durch die Oberstufe, ent­wickelte mit Lehrern und Eltern den schuleigenen Oberstufen-Lehrplan, wurde Abiturbeauftragter und übernahm  in seinem zehnten Jahr zusätzlich den Hauptunterricht in einer verwaisten vierten Klasse. Auch wenn er alles locker anging: »Das 36-Stunden-Deputat lag leicht über meinen Möglichkeiten.« Deshalb gab er den Oberstufenschwerpunkt auf und wurde Klassenlehrer. Es folgte der Aufbau des Sekretariates der Arbeitsgemeinschaft Waldorfpädagogik NRW. Als ihr Sprecher war Kellermann unermüdlich unterwegs für die Ersatzschulverordnung, die den 52 nordrhein- westfälischen Waldorfschulen Existenzsicherheit gewährt. Sein größter Erfolg: Im Schulgesetz NRW von 2005 steht nicht mehr »Privatschulen«, sondern »Schulen in freier Trägerschaft«.

1998 ging er an das Institut Witten/Annen in die Lehrerbildung, wo ihn »verhaltensoriginelle Studenten« erwarteten und die schwierige Entscheidung getroffen werden musste, das Institut nicht als Hochschule akkreditieren zu lassen. Das Institut setzte mit Unterstützung der Schulen auf die duale Ausbildung. Hinzu kamen Einsparmaßnahmen beim Personal, gleichzeitig standen Neubauprojekte an. Kellermann kämpfte alle vier Jahre in allen Fraktionen für die Anerkennung der Studienordnung von Witten/Annen.

Auf die Frage, was sein innerer Antrieb für all seine Aktivitäten sei, antwortet er nachdenklich: »Gelingen, es ging mir immer ums Gelingen.«

Dann war Schluss mit allem – und er war weg. Jetzt wollte er Waldorf in der Welt kennen lernen, ohne Plan, mit viel Zeit. »Wenn ich auf mein bisheriges Leben zurückblicke, dann hatte ich Glück. Und Glück muss man können. Wenn dann irgendwann mal nichts mehr auf mich zukommt, kaufe ich eine Zeitung und einen Hund. Das ist Gerd Keller­mann: ein ziemlich entspanntes Arbeitstier.