Geschenkte Bilder. Die Fotografin Charlotte Fischer

Mathias Maurer

»Ich bin ein Mensch, der nicht lesen kann!«, sagt Charlotte Fischer, »das geschriebene Wort erreicht mich nicht – das gesprochene umso mehr.« Das stelle für sie ein gewisses Handicap dar, da sie sich von der Anthroposophie angezogen fühle, die man sich aber eigentlich nur lesend aneignen könne. Sie findet Zugang über den Umweg des Fotografierens. »Das ist meine Rettung und ein riesengroßes Privileg«, sagt sie, »denn für eine Fotografin öffnen sich Türen zum gesprochenen Wort, die normalerweise verschlossen bleiben.« Als ihre Söhne die Waldorfschule in Bexbach besuchten, stand sie bald selbst hinter Infotischen und schämte sich als diplomierte Kommunikations- und Fotodesignerin für die rosafarbenen, lindgrünen und hellblauen fotokopierten Infoblättchen. Das wollte sie ändern. Die ersten Bilder entstanden für die Broschüre »Fürs Leben lernen«, die als Standard-Erstinformation zigtausendfach in Druck ging. Die Waldorfwelt wurde auf sie aufmerksam. »Über Nacht wollte jeder solche Bilder haben, die Schulen, die Eurythmiebühnen, Kindergärten, die Heilpädagogik, das Telefon stand nicht mehr still. So bin ich von Schule zu Schule gereist und habe fotografiert«, erinnert sie sich.

»Ich bin keine Künstlerin«, sagt Fischer. Diese Aussage wirkt nahezu absurd, überblickt man ihr publiziertes Œuvre. Doch sie findet: »Zur Kunst gehört mehr.« Sie brauche immer eine Vorlage und sei zum überragenden Teil auf Glück angewiesen. »Wenn ein Bild gelingt, habe ich nie das Gefühl, dass ich es gemacht habe, sondern dass es mir geschenkt worden ist«, sagt sie. Ihr fotografischer Stil entwickelte sich weiter, ihr Blick für die warme Waldorfwelt nahm immer mehr die gesellschaftlichen Einflüsse und ihre härteren Schrägheiten auf. »Ich beobachte und nehme mir die Zeit dafür«, sagt sie. »Ich glaube an die Kraft des Wahrnehmens und bin überzeugt, dass sie geradezu therapeutischen Charakter hat.« Für das, was sich vor ihrer Kamera abspielt, interessiert sie sich brennend – nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich. Sensationsfotos interessieren sie nicht.

Fotografiert Charlotte Fischer mit dieser Einfühlung Kinder, vergessen sie entgegen der Befürchtung ihrer Lehrer innerhalb weniger Minuten, dass ein Fotograf im Klassenzimmer ist. Sie spürt deutlich, dass ein raubender Voyeurismus, ein jagendes Auge, nicht zur Waldorfpädagogik passen, in der es um das Wahrnehmen der Einzigartigkeit des Individuums geht. Eine Gratwanderung bleibe das Fotografieren dennoch, weil es immer einen Eingriff in das darstelle, was vor der Kamera geschieht, erläutert sie. Die einzige Haltung, die diesen Eingriff rechtfertige, sei der tiefe Respekt vor dem Gegenüber. »Ich suche die Begegnung von Ich zu Du – mit meinem Blick«, sagt sie.

Ihre besten Bilder seien die, die nie entstanden seien, weil sie sie sich verboten habe.

Gegen das Licht ist für das Licht

Ich frage sie, warum sie konsequent ohne Blitz arbeitet. »Das ist ein Eingriff, eine Verletzung der Situation vor der Kamera!«, antwortet sie. »Das plötzliche Licht reißt jeden aus dem Inhaltszusammenhang heraus, in dem er sich gerade befindet.« In seiner Intensität entspreche es einem Verhörlicht. Am liebsten fotografiere sie gegen das Licht. »Dadurch vermeide ich die Konzentration auf die Ober­fläche – und das Wesenhafte, das Wesentliche kann durchscheinen«, begründet sie.

Charlotte Fischer ist viel gefragt in Waldorfkreisen. Für ihre Öffentlichkeitsarbeit suchen Kindergärten und Schulen händeringend Bildmaterial. Der angemeldeten Dringlichkeit stehen allerdings rechtliche und zeitliche Hindernisse im Wege: Häufig dauern die »Abklärungsprozesse« der Persönlichkeitsrechte, die für eine Veröffentlichung erforderlich sind, Monate oder sogar Jahre. »So kann man für Waldorfpädagogik keine Öffentlichkeitsarbeit machen und ich kann kein Geld verdienen«, konstatiert Fischer. »Oder eine Waldorfschule ruft mich an und fragt, ob ich Fotos aus anderen Schulen zur Verfügung stellen könnte, da die Eltern der eigenen Schule Bilder von ihren Kindern nicht im Internet veröffentlicht sehen wollen.«

Das sei zwar in Zeiten von Facebook, wo Partypics mit restlos betrunkenen Jungs über der Kloschüssel und leicht bekleideten Mädchen in aufreizenden Posen hochgeladen und per Gesichtserkennungsprogramm leicht identifiziert werden, verständlich, aber was habe das mit den Bildern zu tun, die sie im Unterricht von lesenden, schreibenden und strickenden Kindern anfertige?

Inzwischen überlegt sich Charlotte Fischer ernsthaft, ob sie noch Aufträge von Waldorfschulen annehmen soll. Denn wenn die Veröffentlichungsfreigaben von Eltern, Schülern und Lehrern nicht zeitnah eintreffen, war alle wochenlange Arbeit des Fotografierens und der Bildbearbeitung umsonst.

»Einerseits wollen alle Schulen Bilder, aber wie die entstehen sollen, wenn Eltern und Lehrer es nicht mehr zulassen, ist mir zunehmend die Frage«, sagt sie.

Waldorfaffiner Stil ist auch in der Wirtschaft gefragt

Fischers fotografischer Stil ist einzigartig waldorfaffin, ihr Verdienst auch. Keine Waldorfschule kann ihr einen marktgängigen Tagessatz bezahlen. Seit über 30 Jahren stellt sie ihren Kunden frei, wie viel sie zahlen können oder wollen. Von den Waldorf-Projekten kann sie nicht leben. Etwa die Hälfte ihrer Einnahmen stammt aus Aufträgen von der Industrie und Wirtschaft, wo vielfach höhere Honorare gezahlt werden, mit denen sie die eher symbolischen Einnahmen aus der Waldorfszene auszugleichen sucht. Inzwischen arbeitet Charlotte Fischer nur noch mit Waldorfschulen

zusammen, an denen Eltern, Lehrer und Schüler das Vertrauen in einen verantwortungsbewussten Umgang mit Fotos aufbringen. Der Bund der Freien Waldorfschulen beauftragt sie, vier Waldorfschulen im Jahr zu fotografieren.

Die Bilder sind für die Schulen kostenlos – unter zwei Voraussetzungen: Die Schulen klären im Vorfeld, welche Kinder und Lehrer keine Veröffentlichungseinwilligung geben. Und die Schulen kontrollieren innerhalb von vier Wochen nach Erhalt der Bilder, welche nicht veröffentlicht werden dürfen.

»Wenn eine Schulgemeinschaft sich das zutraut«, sagt Charlotte Fischer, »freue ich mich auf neue Begegnungen!«

www.lottefischer.de