König Hartmut und das Reich der Zwerge

Gilda Bartel

Hartmut Tuckermann hat – nach nur sieben Jahren Schule – eine Töpferlehre gemacht. Dieses Handwerk hat es ihm Zeit seines Lebens angetan. Er wurde erst Töpfermeister, dann noch Porzellangestalter und Keramiker. Gut dreißig Jahre lang war die Industrie seine Heimat, wo es schnell und wirtschaftlich zu arbeiten gilt.

Aber es kam der Augenblick in seinem Leben, an dem er diese Routine nicht mehr wollte. Er suchte eine neue Herausforderung und die sollte etwas mit Kindern zu tun haben. Warum?

Fünf Jahre Leben und Arbeiten in Finnland und Schweden haben sein Verhältnis zu Kindern und deren Platz in der Gesellschaft völlig verändert. In diesen Ländern werden Kinder einbezogen – in alles. In Deutschland sind Kinder nicht Teil der Gesellschaft.

Deshalb sollte der Neubeginn etwas für und mit Kindern sein. Etwas, mit dem Kinder angeregt würden zum produktiven und kreativen Tun. Die Reichsgründung fand im fränkischen Hof statt in Form eines Spielzeuggeschäfts für Kinder – mehr: eines Spielzeuglandes. Die ersten Werkstücke waren Lehmziegel und Balken, Mörtel und Werkzeug in Kinderhandgröße. Später kamen Arbeitsgeräte für Kinder und Jugendliche dazu, Töpferscheiben, Spinnräder, Webstühle, Kinderhobelbänke …

Seine Frau gab für die Kinder Webkurse und er Töpferkurse. Anfang der 1980er Jahre hatten sie die beste Zeit. Es klingt ein wenig nach der Grundidee des Bauhauses, nur für Kinder. Für ihn war das wie ein Traum, der in Erfüllung ging. Das Reich wurde Mitte der 1990er Jahre bis nach Weimar vergrößert. Den Laden in Hof führt seine Frau weiter.

Keine reine Märchenwelt

Der fünfjährige Otto betritt um halb elf den Laden. Hartmut kennt ihn. Otto, dessen Mutter einen Laden um die Ecke hat, muss heute wohl nicht in den Kindergarten. Hartmut kennt alle Kinder, die in seinen Laden kommen und deren Eltern auch. Otto stopft seine Jacke in eine Ecke und verschwindet in den Windungen des Ladens. Manchmal kommen Eltern ins Geschäft und sagen zu ihren Kindern: »Such Dir was aus«, aber so funktioniert das nicht, sagt Hartmut Tuckermann. Kinder wollen spielen, ausprobieren, erstmal nur da sein und am Ende können sie vielleicht entscheiden, was sie kaufen möchten. Vielleicht aber auch nicht. Das ist für König Hartmut völlig in Ordnung.

In den letzten 30 Jahren habe er eine kostenlose Ausbildung zum Pädagogen erhalten, sagt er schmunzelnd: »Die Kinder zeigen mir, was sie vom Leben erwarten. Das Leben könnte so schön sein, mit den Augen und Gefühlen der Kinder betrachtet. Aber im Grunde werden sie von uns Erwachsenen ständig enttäuscht. Ich möchte die Kinder nicht enttäuschen.«

Hartmut Tuckermann weiß viel über sie und darüber, wie sie spielen wollen. Sie wollen keine heile Welt haben im Spiel, sondern entdecken und erleben. Sie nehmen es auch mit Gefahren auf. Allerdings darf es keine reine Märchenwelt sein. Deshalb sorgt Hartmut dafür, dass es Bezüge zur Wirklichkeit gibt. So steht zwischen Spielzeug, das man kaufen kann, und Spielmöglichkeiten, die man benutzen kann, auch ein Globus, damit man auch schnell mal ein Land auf der Weltkugel findet. Hartmut Tuckermann hat über die Jahre festgestellt, dass das Spielzeug freilassend sein sollte, natürlich und nicht ausgedacht. Er schlägt einen Katalog für Spielwaren auf und zeigt auf den ganzen »Blödsinn, den man sich ausdenkt und der schon so fertig ist, dass die Kinder daran nicht innerlich aktiv werden können. Dinge, die extra für Kinder gemacht sind, taugen meist nicht viel, so wie das viele Kaufladenobst aus Holz. Warum nehmen wir nicht Kastanien oder Eicheln dafür oder auch richtige Kartoffeln? Kinder brauchen eine Spielwelt, die möglichst frei ist und möglichst einfach«. Über uns tönt Ottos Stimmchen aus der zweiten Etage: »Die ist doch bei Dir Hartmut, die ist doch schon da, die Welt.«

Zu hoch für das Ordnungsamt

Seinen Laden, damals wie heute, versteht er als »Institution«, die genau solche Verantwortung für Kinder trägt, wie eine Schule, ein Kindergarten oder ein Hort auch. Woher stammt dieses Verantwortungsgefühl? »Wahrscheinlich ist das eine typische Handwerkerhaltung.« Es ist für ihn wie ein Lebenselixier, wenn er in seinem Laden Dinge bauen kann, Murmelbahnen, die sich an den Regalen entlang schlängeln, eine neue Glasvitrine zwischen die Bücherwände, um die alten Zinnsoldaten auszustellen, Schaukeln für die Kinder im Innenhof.

»Was die Kinder wollen oder brauchen, kann nicht des Geldes wegen geschehen«, sagt er und daran glaubt er. Alles Geld, das im Laden verdient wird, fließt wieder in den Laden. Es wird draußen noch ein Klettergerüst installiert oder noch ein Tretauto angeschafft, sehr zum Leidwesen der Nachbarn, die den Hinterhof mit Hartmut Tuckermann teilen. Kann er denn von dem Laden leben? »Ich habe ja noch meine Rente«, ist seine Antwort.

Was heißt nun aber, einen Laden für und mit Kindern zu machen? Hartmut Tuckermann hat keine Erziehungsabsichten, auch kein bestimmtes Konzept oder eine besondere Weltanschauung. Er lässt die Kinder einfach nur teilhaben. Deshalb hat er auch keine elektrische Kasse oder Kartenlesegeräte. Denn die könnten die Kinder nicht bedienen.

Der neunjährige Elias gibt dem Kunden, der nach alten Autos fragt, sofort Auskunft und zeigt ihm mit einem »Komm mal mit« den Weg, noch bevor Hartmut Tuckermann etwas sagen kann. Aber das freut ihn. Die Kinder sind mit dem Laden verwachsen. König Hartmut greift nur ihre Ideen auf und setzt sie mit ihnen gemeinsam um. Manchmal verstehen die Eltern das nicht und erlauben ihren Kindern nicht mehr zu kommen, was sowohl die Kinder als auch Hartmut traurig macht. Zum Beispiel lieben Kinder, wie Hartmut Tuckermann aus eigener Erfahrung weiß, die Verfremdung von Alltagsnamen: So wird aus der Schüssel Knabbereien, die immer aufgefüllt an einem Regal hängt, das »Rattengift«. Diese Idee stammte von den Kindern als der Film »Ratatouille« in den Kinos lief. Es gibt auch noch Seife und Waschlappen in der Keksdose.

Die Kinder dürfen jederzeit nachschauen, was eingenommen wurde, und Hartmut Tuckermann antwortet ihnen auch auf die Frage, wie viel Geld er braucht und ausgibt. Der Laden ist ein Aufenthaltsort, ein Stück Leben für die Kinder geworden.

Auf dem Klo im Laden hängt ein Brief vom Ordnungsamt, der darauf hinweist, dass nicht jeden Sonntag verkaufsoffener Sonntag ist. Ja, aber wird denn sonntags verkauft oder wird sonntags nur gespielt?

Es ist schwer zu begreifen, was man vor sich hat, wenn man Hartmuts Königreich betritt. Noch schwerer fällt es, zu verstehen, dass sich die Ebenen Verkauf und Spielort mischen. Am schwersten, dass es einen gibt, der das aushalten kann und sogar will.

Wir müssten die Kinder mehr reden lassen

Woher kommt dieses besondere Verhältnis zu Kindern, die Sehnsucht, den Kindern ihre Welt zu bauen? »Ich habe nie nach materiellem Besitz gestrebt, vielleicht weil ich ein Kriegskind war und mit Einfachem zurecht kam. Meinen Kindern habe ich alles selbst gebaut und fand es toll, nichts kaufen zu müssen. Und ich bin nie in der Erwachsenenwelt aufgegangen, war nie der Erwachsene, den man sich vorstellt. Naivling halt.«

Und was können wir Erwachsenen von den Kindern lernen? »Ach so unheimlich viel. Wir müssten sie viel mehr reden lassen, zuhören. Aber die Kinder werden so schnell bombardiert mit Dingen, die die Eltern schon bewertet und entschieden haben. Sie haben ein starkes Gerechtigkeitsempfinden. Da reagieren wir oft falsch. Ich könnte viele Geschichten erzählen. Wir erziehen sie oft zum Lügen oder stellen einfach die falschen Fragen, bei denen die Kinder spüren, dass wir kein Vertrauen zu ihnen haben. Aber das Vertrauen zu sich darf das Kind nicht verlieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir ihnen zuhören.«

König Hartmut hält Stand für seine Welt und die darin lebenden Kinder. Und die Kinder halten zu ihm. Sie spüren wohl, dass irgendetwas hier im Laden so richtig stimmt.