Sensibel für die Quellen. Eine Waldorflehrerin aus Schwerin ist Lehrerin des Jahres

Sven Jungtow

»Frau Schwarte kommt jeden Morgen mit guter Laune pünktlich in den Klassenraum«, so ein Schüler. »Man hat, wenn der Lehrer gut gelaunt ist, viel mehr Lust zu lernen!«, fügt er hinzu. Danach lobt er auf einer eng beschriebenen DinA4-Seite den ideenreichen Unterricht und das Engagement seiner Klassenlehrerin. Er fragte, ob er seinen Vorschlag einreichen dürfe, und sie stimmte zu, weil sie den Schüler, der sich so viel Mühe gemacht hatte, nicht enttäuschen wollte, obwohl sie annahm, dass sich die Sache im Sande verlaufen würde. Eltern schlossen sich der Beurteilung ihres Unterrichts an. So kam es, dass Juliane Schwarte eines Tages überraschend einen Anruf des Bildungsministers von Mecklenburg-Vorpommern, Matthias Brodkorb, bekam. Er teilte ihr mit, dass sie sich aufgrund ihres »herausragenden pädagogischen Engagements und ihres Einsatzes weit über das dienstliche Maß hinaus«, wie es in den Richtlinien des Bildungsministeriums heißt, jetzt zusammen mit acht anderen Kollegen aus staatlichen Schulen »Lehrerin des Jahres  2015« nennen darf.

»Anfangs wusste ich gar nicht, was ich dazu sagen sollte«, erzählt Juliane Schwarte. Dann kam natürlich Freude auf, aber auch die Überzeugung, dass eigentlich das ganze Kollegium, das in den letzten Jahren viele innovative  Ideen verwirklicht hat, die Auszeichnung verdient hätte. Denn »nur im Zusammenwirken, möglichst auch an gemeinsamen fächer- und klassenübergreifenden Projekten, kann Schule gelingen«, erläutert sie.

Juliane Schwarte studierte nach dem Abitur Kunst und Werken an der Hochschule für Bildende Künste in Kassel. Dann folgte an der Pädagogischen Hochschule in Dortmund ein Lehramtsstudium für Grund- und Hauptschulen mit den Fächern Kunst, Deutsch und Geschichte. Nach dem ersten Staatsexamen zog die Familie nach Stuttgart. Frau Schwarte erzählt: »Das pädagogische Handwerk habe ich im Referendariat in Baden-Württemberg zwar gelernt, und dafür bin ich auch dankbar. Gerieben habe ich mich aber an der mangelnden pädagogischen Gestaltungsfreiheit, der Richtlinienhörigkeit und dem weit verbreiteten vorauseilenden Gehorsam in den Kollegien. Nach dem zweiten Staatsexamen war ich mir sicher, so nicht weiter arbeiten zu wollen.« Sie kündigte konsequenterweise an dem Tag, an dem sie verbeamtet werden sollte.

Ihre Erfahrungen bei der Geburt ihrer Tochter in der anthroposophischen Filderklinik riefen frühe Erinnerungen an die Weihnachtsspiele in der Christengemeinschaft und deren Spielangebote für kleine Kinder wach, zu denen die Großmutter sie mitgenommen hatte. Sie besuchte öffentliche Vorträge an der Stuttgarter Uhlandshöhe und war so beeindruckt, dass sie später – nach einem Umzug – ihr Kind im Siegener Waldorfkindergarten anmeldete. Dort kam auch der Kontakt zu einer Waldorflehrerin zustande, die Juliane Schwarte darauf hinwies, dass die Waldorfschule dringend Lehrer suche. Frau Schwarte ergriff die Gelegenheit und besuchte das berufsbegleitende Waldorflehrerseminar in Wanne-Eickel. »Das war 1981«, erinnert sie sich, »seitdem bin ich Klassenlehrerin.«

Die Sinnhaftigkeit des Waldorflehrplans überzeugt sie immer wieder auf Neue. Sie ist begeistert, wie treffend die Anregungen des Lehrplans die Bedürfnisse der jeweiligen Altersstufe ansprechen. Besonders wichtig sind ihr die menschenkundlichen Grundlagen der Pädagogik und die methodisch-didaktischen Impulse Rudolf Steiners. »Das sind die Quellen, aus denen wir als Waldorflehrer schöpfen können. Aber es gilt auch«, ergänzt sie, »was Reiner Kunze in einem wunderbaren Gedicht in ›Sensible Wege‹ gesagt hat: »Sensibel ist die Erde über den Quellen: kein Baum darf gefällt, keine Wurzel gerodet werden. Die Quellen könnten versiegen.« Das heißt nicht, dass man alles auf dem Stand von 1925 konservieren sollte, aber alles Neue muss behutsam angegangen werden und aus den Grundlagen der Waldorfpädagogik hervorgehen.«

In ihrer Zeit an der Siegener Waldorfschule erlebte Frau Schwarte, dass viele Kinder mit Behinderungen nicht aufgenommen wurden oder lernbehinderte Kinder, die an der Schule waren, nicht die Förderung bekommen konnten, die sie gebraucht hätten. Aus dieser leidvollen Erfahrung entstand bei einigen Eltern und Kollegen die Idee, eine Förderschule zu gründen. Nach ihrer zusätzlichen Ausbildung zur Sonderschullehrerin in Witten-Annen und dem staatlichen Gleichstellungsverfahren war sie Mitbegründerin der Johanna-Ruß-Schule, einer heilpädagogischen Waldorfschule in Siegen.

Nach dem Eintritt ihres Mannes in den Ruhestand zog sie mit ihm nach Schwerin. An der dortigen Waldorfschule übernahm sie zum Schuljahr 2009/2010 die erste Klasse und die wird sie bis zum Ende des laufenden Schuljahres führen. Nach sechs Jahren endet in Schwerin die Klassenlehrerzeit und damit ihre Zeit als Lehrerin.

Glückliche Fügung: Ihre Tochter lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Schwerin und zwei der vier Enkelkinder besuchen schon die Schule, an der sie unterrichtet.

In ihrer Klasse hat sie hochbegabte Kinder, aber auch Kinder mit Förderbedarf, so dass ihr die sonderpädagogische Zusatzausbildung auch in Schwerin zugute kommt. Wichtig ist ihr, dass kein Schüler dauerhaft über- oder unterfordert ist, da sonst bei den einen wie bei den anderen problematische Verhaltensmuster entstehen können. »Lernen in Tätigkeit, praktisch und handgreiflich, ist der Königsweg, auf dem man jeden Schüler erreicht«, meint sie. Deshalb stellt sie das Preisgeld von 2500 Euro, das mit der Auszeichnung als »Lehrerin des Jahres« verbunden ist, auch dem Ausbau der naturwissenschaftlichen Sammlung für Schülerversuche und dem Klassenkonto der 6. Klasse zur Verfügung.

Jeden Schüler da abholen, wo er steht, binnendifferenziert jedes Kind an seine persönlichen Grenzen führen – Juliane Schwarte scheint diesen Spagat, den sie eher als »Übungsweg« bezeichnet, zu meistern. Und zwar ganz konkret, durch tägliche Übungen, im Gedanklichen, in der Sprache, in der Kunst oder in der Musik.

Und kommt Wehmut auf bei dem Gedanken, dass die Zeit als Lehrerin zu Ende geht? »Nein, eigentlich nicht. Ich habe meine Schüler sehr gern und die Verbundenheit mit ihnen wird ja auch nicht abreißen. Aber ich war so lange Lehrerin, dass es jetzt auch mal Zeit für etwas Neues geben darf.

Außerdem bleibe ich der Schule noch an einem Tag in der Woche erhalten, gebe Förderunterricht und begleite weiterhin den Chor«. Optimistisch blickt die Lehrerin des Jahres in die Zukunft.