Verbindende Weiten. Dimensionen einer Schulpatenschaft

Clara Steinkellner

Wer hätte damals an jenem Herbsttag in Villingen-Schwennigen gedacht, dass die Sonnenblume, die ein heranwachsender junger Mann dem noch kleinen Mädchen in die Hand drückte, eine über die Schulzeit hinausgehendes Band knüpfen würde, woraus eine im Laufe der Zeit immer wieder erneuernde Kraft für gesellschaftliches Handeln und Wirken entsprang? Das gemeinsame Seilspringen im Kindesalter wich im Laufe der Jahre stets neuen Patenaktivitäten. Immer wieder stapfte Kirsten dabei in Tims Fußstapfen. Schon früh gingen sie ähnliche Wege, durch den Altersunterschied von acht Jahren nur selten darum wissend.

Doch die bedeutende Wende stellte sich erst nach Ende der Schulzeit ein: Beide folgten ihrer Sehnsucht gen Osten und leisteten ein Freiwilligenjahr in Sozialprojekten in Russland: Kirsten im äußersten Westen in einer Schule für Kinder mit Behinderungen, Tim in Sibirien in dem Camphill-ähnlichen Wohn- und Werkstattprojekt Istok. Seither reist Tim einmal im Jahr nach Sibirien, um diese Einrichtung in ihrer Pionierphase zu begleiten und mitzuhelfen, die Werkstatt für traditionelle Birkenrindenprodukte, die auf seine Initiative hin entstanden ist, weiterzuentwickeln. Nach Abschluss seines Studiums der Osteuropäischen Kulturwirtschaften in Passau verfolgt er mittlerweile hauptberuflich das Ziel, das alte Handwerk rund um das wertvolle Naturprodukt Birkenrinde aufleben zu lassen und damit auch der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Istok eine Perspektive zu bieten.

Umso erstaunter war Tim, als er vor zweieinhalb Jahren in der Bibliothek seiner alten Passauer Universität ein bekanntes Gesicht traf: Kirsten, die mittlerweile, wie er einst selbst, dort Osteuropäische Kulturwirtschaften studiert. Nur kurze Zeit später fand Tim eine Anfrage von Kirsten in seinem E-Mail-Postfach: Sie möchte gerne ein Praktikum in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Istok machen.

Genau dort trafen sie dann auch das nächste Mal aufeinander. Kirsten lernte von Tim die Geheimnisse rund um das Birkenrindenhandwerk kennen und arbeitete einige Monate mit den Betreuten in der Werkstatt. Dort entstehen Birkenrinden-Dosen zum Aufbewahren von Lebensmitteln – kleinere für Salz und Gewürze, mittlere für Tee, Kaffee, Getreide, Zucker und größere für Brot. Die natürliche antiseptische Wirkung der in der Birkenrinde enthaltenen ätherischen Öle hat sich seit langer Zeit für die Lagerung von Lebensmitteln bewährt.

Die Arbeit mit der weichen, lederartigen, sanft duftenden Rinde eignet sich besonders gut für den sozialtherapeutischen Alltag, auch wenn die leimfreie Produktion mit Steckverbindungen und das Nähen mit Birkenrindefäden einige Geschicklichkeit erfordert. Die fertigen Produkte, aber auch Bastelsets, mit denen man selbst Dosen bauen kann, sowie Rohrinde zum Werkeln und Bauen werden dann von Deutschland aus in Tims eigens dafür gegründeter Firma sagaan vertrieben.

Auf diese partnerschaftliche wirtschaftliche Beziehung, die über eine einseitige Unterstützung einer Einrichtung mit der oft daraus resultierenden Abhängigkeit hinausgeht, ist Tim besonders stolz. Zwar kann die Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Istok seinen Bedarf schon längst nicht mehr decken, sodass er im Laufe der Zeit einige Familienbetriebe dazugewonnen hat, aber die »Geschäfts­be­ziehung« mit Istok hat sich in den letzten Jahren weiterentwickelt.

Nicht immer läuft alles so einfach, vieles muss gemeistert werden, damit auch pünktlich geliefert werden kann. Vor zwei Jahren ereignete sich außerdem in Istok ein tragisches Unglück: Eines Nachts fiel ein komplettes, neu gebautes Wohnhaus einem Brand zum Opfer. Zwei Betreute, darunter auch die versierteste Birkenrinden-Handwerkerin, konnten nicht mehr aus den Flammen gerettet werden. Dank gemeinsamer Hilfseinsätze wurden die bestehenden Häuser wieder instand gesetzt, eines erweitert und ein Neubau ist in der Projektierungsphase. Doch der Verlust zweier Menschenleben hat die Gemeinschaft geprägt und lebt in schmerzhafter Erinnerung fort.

Sagaan hat sein Sortiment und Angebot rund um die Birkenrinde kontinuierlich erweitert: Tim bietet regelmäßig Workshops zum Arbeiten mit Birkenrinde an. Anfragen kommen unter anderem von Museen für Frühgeschichte, denn die Birkenrinde war schon zu »Ötzis« Zeiten bekannt und wurde vielfältig genutzt. Zudem hält er Vorträge über soziales Wirtschaften, das ihm ebenso wichtig ist wie die unternehmerische schöpferische Freiheit. Gemeinsam mit der Freien Bildungsstiftung wurde inzwischen die »Kooperation Wirtschaft-Bildung« begründet, die – inspiriert durch Rudolf Steiners Dreigliederung des sozialen Organismus – die Zusammenarbeit zwischen freien Kulturprojekten und sozialem Unternehmertum unterstützen möchte.

Auch die Beziehung zu sozial innovativen Projekten in seiner zweiten Heimat Russland liegt Tim am Herzen, vor allem unter der derzeit politisch angespannten Lage – ein Anliegen das ihn abermals mit Kirsten verbindet: Die beiden besuchten kürzlich eine russisch-deutsche Fachkonferenz zum Thema »Arbeit mit Menschen mit Behinderung«. »Es war für mich sofort klar, dass ich zur Konferenz reisen werde, denn Projekte, die in dieser Zeit Brücken schlagen, anstatt sie einzureißen, müssen gestärkt werden«, sagt Tim. Für Kirsten war die Konferenz ein wichtiger Schritt, ihren zukünftigen Berufsweg zu planen: sie will ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung in Russland gerne denen zur Verfügung stellen, die sie dringend benötigen, nämlich den Betroffenen selbst.

Weitere gemeinsame Schritte der ehemaligen Schulkameraden werden wohl nicht lange auf sich warten lassen …

Zur Autorin: Clara Steinkellner, ehemalige Grazer Waldorfschülerin, studierte Internationale Entwicklung in Wien und betreut verschiedene Projekte der Freien Bildungsstiftung.

www.beryosa.net | www.sagaan.de | www.freiebildungsstiftung.de