Waldorf in Arabien

Isabella Geier unterrichtet seit 1985 Geschichte, Französisch und Sozialkunde an der Freien Waldorfschule Augsburg. Sie bereiste in ihrem Freijahr Israel, Palästina und Marokko. Und bei Gelegenheit gestaltete sie unterwegs Land Art.

Sibylla Hesse: Wie hast du dein Freijahr genutzt?

Isabella Geier: Ich habe mir vorgenommen, viel Neues auszuprobieren, aber auch einige Dinge zu intensivieren, die mir schon lange am Herzen liegen, für die ich im Schulalltag kaum Zeit fand. Vieles habe ich bewusst geplant und aufgesucht, manches kam einfach auf mich zu, zum Beispiel, die Teilnahme an einem Poetry Slam gegen rechts.

SH: … und die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) – was kann dieses Instrument bewegen?

IG: Die GFK gehört zu den Dingen, die ich unbedingt machen wollte. Dass sich dann während des Einführungswochenendes die Möglichkeit ergab, ein GFK-Intensivtraining mit einer Reise nach Israel/Palästina zu verbinden, was ganz oben auf meiner Liste stand, war ein Glücksfall. Ich habe die GFK als praktische Methode erlebt, die Herz und Herz, Ich und Ich zusammenbringt, fast so zwangsläufig, wie nach einer Zeugung eine Geburt erfolgt. Vorausgesetzt man verbindet die Methode mit einer authentischen Haltung. Die Haltung muss zuerst da sein, dann ist die Methode sehr hilfreich, um Konflikte zu lösen, Menschen zusammenzubringen, gegenseitiges Verständnis zu fördern, Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn ein junger Palästinenser einen israelischen Altersgenossen in tiefer Verbundenheit in die Arme schließt, obgleich er Israelis bisher ausschließlich als Soldaten und im Zusammenhang mit Repression, Schikane, Haft und Erschießungen erlebt hat, dann hat das durchaus Überzeugungskraft.

SH: Was bedeutet dir Land Art?

IG: Die habe ich intensiver kennen gelernt, als ich vor ein paar Jahren mit meiner 12. Klasse bei ihrer Kunst-Abschluss-Fahrt mit unserem Kunstlehrer nach Gotland fuhr. Für die jungen Menschen, die sich Gedanken darüber machen, was sie im Leben, in der Gesellschaft machen wollen, finde ich Land Art eine geniale Beschäftigung: Du stehst an irgendeinem Punkt dieser Erde und schaust dich um, was es da so gibt. Dann spürst du in dich hinein, wozu dich das Vorhandene inspiriert und was du mit deinen Fähigkeiten daraus gestalten kannst, um den Ort schöner zu machen. Das geht allein oder mit anderen. Mir selbst hat das damals so großen Spaß gebracht, dass ich es immer wieder mache. Insbesondere das Balancieren mit Steinen ist sehr meditativ. Man muss sich in die Schwerkraft hineinfühlen, sachte, winzigste Bewegungen machen, bis man den richtigen Punkt findet. Man kriegt das allmählich in Blick und Finger, aber wenn man es dann eine Weile gar nicht macht, muss man wieder von vorne anfangen. Wie bei allem.

SH: Wie hast du die Waldorfbewegung in Israel erlebt?

IG: In Israel boomt die Waldorfbewegung. In den letzten Jahren wurden immer neue Schulen gegründet. Ich habe neben der ältesten Waldorfschule in Harduf eine noch junge im Süden von Tel Aviv besucht und einen großen Idealismus erlebt. Die Leute sind stark auf der Suche und leben sehr bewusst. Unter den Lehrern sind welche, die vorher beim israelischen Geheimdienst gearbeitet oder eine militärische Karriere hinter sich haben und sich für einen Neuanfang in ihrem Leben entschieden. Die enorme Rolle des Militärs in der Gesellschaft wirkt sich auch auf die Waldorfschule aus. Ein Klassenlehrer erzählte mir, dass besonders Jungen schon in der Unterstufe ein Problem haben, sich auf das Singen einzulassen, weil sie es nicht mit ihrem Männerbild vereinbaren können. Dann war ich noch in der ersten arabischen Waldorfschule in Shfar‘am und in einem zweisprachigen Waldorfkindergarten in der Nähe.

SH: Was hast du über gelebten Islam herausgefunden?

IG: Das kann man nicht kurz zusammenfassen, das ist so vielfältig! In Palästina hatte ich den Eindruck, dass sich gerade junge Menschen teilweise vom Islam entfernen und ihre spirituellen Bedürfnisse im Buddhismus und anderswo zu befriedigen suchen, vielleicht, weil sie sich in ihrer Situation von Gott verlassen fühlen. Ein Dreißigjähriger, der mit zwölf den Koran auswendig konnte und als Student einen Bart trug, hat mir gesagt: »In den Situationen, in denen ich Gott am allernötigsten gebraucht hätte, hat er mich vollkommen im Stich gelassen.« Nämlich als israelische Soldaten ihn am Checkpoint auf den Boden gedrückt und ihm jedes Barthaar bis zum letzten einzeln ausgerissen haben. Diese Tortur dauerte sechs Stunden.

Ich habe aber auch viele Menschen erlebt, die aus dem Islam die Kraft schöpfen, nicht zu zerbrechen und trotz allem ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft in die Zukunft hinein zu gestalten. Fundamentalisten, die im Koran Munition für ihre Rachegefühle und ihren Hass suchen, habe ich nicht kennengelernt.

SH: Und in Marokko?

IG: Dort ist der Glaube weitgehend ungebrochen, auch wenn es in den großen Städten einen höheren Anteil Nichtpraktizierender gibt. Viele beten regelmäßig, auch wenn der Fernseher läuft oder sich andere unterhalten. Eine Geschichtskollegin erklärte mir das so, dass sie sich im Gebet ganz in der Gegenwart Gottes fühle und alles andere vergesse. Besonders wenn sie mit der Stirn den Boden berühre, empfinde sie sich mit Gott vereint. Sie zieht daraus das Gefühl von Schutz und Unterstützung über den Tag hin. Eine junge Mutter sah ich den Koran immer dann lesen, wenn sie mit der Hausarbeit fertig war. Auch im Zug beobachtete ich junge und alte Menschen bei konzentrierter Koranlektüre. Nur einmal wurde ich mit richtig missionarischem Eifer konfrontiert. Ich traf Reformer, denen es darum geht, die zeitgebundenen Elemente im Islam, d.h. die konkreten, für einen mittelalterlichen Kontext gegebenen Regeln im Geist des Islams der Gegenwart anzupassen, wie es die staatliche Gesetzgebung ohnehin tut. Das ist aber ein heikles Unterfangen, denn wer darf und kann »Gottes Wort« verändern? Viele praktizierende Muslime haben die Empfindung, dass ihr Glaube vielerlei Angriffen ausgesetzt ist. Sei es durch den Westen oder durch IS und ähnliche sich auf den Islam berufende Barbaren, über die sie genauso entsetzt sind wie wir in Europa.

SH: Wie leben Frauen heute in islamischen Ländern?

IG: Interessant war für mich zu beobachten, dass Frauen selbst an so mancher Tradition und Denkweise festhalten, die eine gleichberechtigte Stellung der Frau nicht unbedingt fördern. Übrigens nicht nur Frauen mit geringer Schulbildung. Auf meine Frage, wie die Bestimmung im Koran, dass das Zeugnis einer Frau nur halb so viel wert ist wie das eines Mannes, heute noch gelten kann, sagte mir eine Kollegin allen Ernstes, dass Frauen emotionaler und darum in ihrer Zeugenschaft nicht so zuverlässig seien. Ihr männlicher Kollege dagegen regte sich darüber heftig auf und fragte, wie sie es dann verantworten kann, allein über Noten zu entscheiden oder ihre Stimme bei der Wahl abzugeben. Unterdrückt wirken die Frauen, die ich kennengelernt habe, jedenfalls überhaupt nicht. Eine junge Grundschullehrerin, die in einem Bergdorf im Süden unterrichtet, ist gleichzeitig Präsidentin einer Organisation, die ledigen und geschiedenen Frauen durch die Produktion von Arganöl ein Einkommen ermöglicht. Mit ihrem Lehrergehalt unterstützt sie ihre Schwestern, die keine feste Arbeit haben. Sie hat viele männliche Freunde, mit denen sie kulturelle Veranstaltungen organisiert. Es gibt in Marokko Unternehmerinnen, Bürgermeisterinnen, Parlamentarierinnen – die Frauen sind im Kommen!

SH: Wie passen Islam und Waldorf zueinander?

IG: Praktisch scheint es zu funktionieren. Ich durfte den jüdischen Eurythmielehrer in den zweisprachigen Kindergarten begleiten, in dem die arabische Erzieherin ausschließlich Arabisch spricht, die jüdische nur Hebräisch. Die beiden Erzieherinnen harmonierten sehr gut und erzeugten unter den arabischen und jüdischen Kindern eine wunderbare Stimmung. Die Eurythmie machten alle sehr innig mit. Auch an der arabischen Waldorfschule in Shfar‘am habe ich echten »Waldorfgeist« gespürt. Trotz aller Probleme: finanzielle natürlich, aber auch, weil für arabische Eltern, egal ob christlich oder muslimisch, vor allem intellektuelle Leistungen zählen. Jetzt sorgt ein pensionierter Schuldirektor dafür, dass diese im Waldorflehrplan nicht zu kurz kommen.

Auch bei meinem Marokkoprojekt erlebe ich ein großes Interesse für Waldorfpädagogik. Damit diese aber in islamischen Gesellschaften beheimatet werden kann, ist – glaube ich – nötig, alles christlich Konfessionelle, woran sich die Bewegung so gewöhnt hat, herauszunehmen und den Fokus ganz auf die Methodik zu richten. Prinzipiell kann man in Marokko Privatschulen gründen.

SH: Welche Erlebnisse hattest du mit Jugendlichen, die in globalisierten Zeiten und Räumen aufwachsen?

IG: In Palästina und Marokko haben die Jugendlichen nur virtuell etwas von der Globalisierung, sofern sie nicht Kinder reicher Eltern sind, die ihnen ein Studium im teuren Ausland finanzieren können, oder im Ausland eingebürgerte Familienmitglieder haben, die eine Einladung inkl. finanziellem Nachweis aussprechen. Ansonsten können sie nicht einfach in der Welt herumreisen wie wir. Sie brauchen ein Visum, das besonders für ledige junge Männer sehr schwer zu bekommen ist. Virtuell vernetzt sind sie genauso wie die israelischen und westlichen Jugendlichen, wenngleich auf einem technisch bescheideneren Niveau. Sie kommunizieren also rege per E-Mail, Skype, WhatsApp, Facebook etc. mit der ganzen Welt, aber ohne die Aussicht, hinreisen zu können. Viele der marokkanischen Schüler, die uns besuchen, sind bisher noch nicht einmal aus ihrer Kleinstadt herausgekommen, während unsere Schüler z. T. jedes Jahr einen anderen Kontinent bereisen.

SH: Welche Impulse nimmst du mit aus deinem Freijahr?

IG: Einige meiner schon vorhandenen Impulse haben sich durch meine Erlebnisse verstärkt. So fällt es mir jetzt noch schwerer, zu akzeptieren, dass in der Waldorfwelt mühselig interkulturelle Schulen gegründet werden müssen, während alle staatlichen Grundschulen schon qua natura interkulturell sind. Ansonsten hoffe ich, dass es mir gelingt, die neu kennen gelernte GFK immer mehr zu verinnerlichen, das heißt, mich in meine Mitmenschen einzufühlen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und auch mehr auf meine eigenen zu achten. Ich durfte in diesem Jahr in besonderer Weise die Fülle und Vielfalt des Lebens erleben und genießen, und das gibt mir Schwung und Lust für meine letzten zehn Berufsjahre wie für meine sonstigen Aktivitäten.

Die Fragen stellte Sibylla Hesse.

Sibylla Hesse unterrichtet Geschichte, Kunstgeschichte und Projekt an der Waldorfschule Potsdam.