Was Auswandern bedeutet

Gilda Bartel

Der Ausgangspunkt des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanzierten Projektes, war die Suche nach den Werten im Zusammenleben zwischen alt und jung in der Stadt Weimar.

Leander wollte sich unbedingt mit Fotojournalismus beschäftigen und ein aktuelles Thema behandeln, über das diskutiert werden kann: Einwandern und Auswandern. Aber nicht nur »Flüchtlinge« sollten zu Wort kommen, sondern auch Menschen, die geblieben sind, die in einer fremden Kultur gut angekommen sind. Einen Baustein dafür nahm Leander aus seinem Sozialpraktikum in Vancouver. Dort hat er mit Menschen gesprochen, die nach Kanada ausgewandert sind. Seine Arbeit, seine Ausstellung spannt einen weiten Bogen und hebt die mitunter heiklen Fragen der deutschen Asylpolitik in einen allgemein-menschlichen Bereich. Großformatige Fotodrucke auf Aluminium in Schwarzweiß sind auf schwarzen Raumteilern angebracht. Lustig gebogene Drahtkleiderbügel dienen mp3-Playern als Halterung. Daran hängen Kopfhörer.

Geschichten über das Einwandern und das Auswandern

Die Interviews, die Leander ein halbes Jahr lang mit den sechs ausgewählten Menschen geführt hat, sind zwischen fünf und zwölf Minuten lang. Man hört nur den jeweiligen Menschen sprechen. Da ist Ilias Rachaniotis, ein Grieche, der seit dreizehn Jahren in Weimar lebt. Sein »Virus« war schon immer die Sehnsucht nach der weiten Welt, nach dem Rausgehen aus seinem Heimatdorf. Für ihn bereichert sich der Mensch, wenn er versteht, wie der Andere denkt. Bis er die deutsche Sprache beherrschte, habe er in Deutschland nur »existiert«. Der Musiker und Musiklehrer meint, dass »wir in Europa noch nie gelernt haben, friedlich miteinander zu leben. Da gibt es eine große Lüge.« Ein interessanter Gedanke. Ihm hilft der Zustand, nicht fest in nur einer Kultur zu stehen, so dass er frei ist, das zu sein, was er entschieden hat zu sein.

Die Russin Elena Deljanin ist nach Vancouver emigriert. In der Fremde müssen die Russen zusammen halten, findet sie. Die russische Gemeinde in Vancouver ist stark und darauf ist Elena stolz. Man hat den Eindruck, dass sich ihre Identität gerade in der Fremde bildet. »Die Russen lassen sich nicht kaufen vom amerikanischen Kapitalismus. Sie kommen immer zurück zu Familienwerten und dem Christentum«, sagt sie im Interview. Die heutige Zeit fragt nach Positionierungen und deshalb leben wir aus Elenas Sicht in einem spirituellen und ideologischen Krieg, gleich wo auf der Welt wir leben.

Der in Deutschland geborene, aber im Iran aufgewachsene Pirusan Mahboob hat in Weimar ein kleines Geschäft, das »Iranhaus«. Er liebt Weimar und Goethe und vor allem die schöne Verbindung seiner beiden Identitäten. »Ich habe eine wunderbare Welt für mich, wo Vieles unter einem Dach ist.« Dass es auch Gegensätze in seinen beiden Kulturen gab, die er nicht überbrücken konnte, führte für ihn dazu, sich selbst als Person, nicht als Angehöriger einer Kultur, entscheiden zu können. Er versteht sich als Brückenbauer oder Raumöffner zum Beispiel für seine Freunde auf beiden Seiten, die er in den Jahren zusammengebracht hat. Dass Goethe sich in seinem »West-östlichen Divan« mit dem iranischen Dichterfürsten Hafis beschäftigt hat, ist Pirusan immer ein Zeugnis gewesen, dass sich die Kulturen begegnen und bereichern können.

Asylanten in Weimar

Im hinteren Teil der Ausstellung sind Fotografien von Kindern zu sehen, die auf dem Dach einer Art Wanderhütte herumklettern, während sich der Himmel im Sonnenuntergang dramatisch gebärdet. Man fragt sich, ob Leander für seine Arbeit auch in Rumänien war?

Es sieht ärmlich aus und karg. Dann stellt man mit einem Schock fest, dass diese Aufnahmen den Außenbereich des Asylantenheimes in Weimar zeigen, mit den draußen spielenden Kindern, die dort leben. Eines von ihnen könnte das Kind von Jugoslav sein, einem jungen Theaterregisseur aus Serbien, der als Roma vor den Serben fliehen musste, nachdem er ein kritisches Theaterstück aufgeführt hatte. Er und seine Familie wurden bedroht, weshalb sie sich entschieden, als politische Flüchtlinge nach Deutschland zu gehen. Drei Tage dauerte ihre Reise mit dem Bus. »In Weimar gibt es tolle Leute, so viele nette Leute«, sagt er. Der Vierundzwanzigjährige ist aktiv in der Freiwilligen Feuerwehr, hat beim Kunstfest einen kleinen Beitrag gegeben und geht einmal die Woche zu seinem biblischen Hauskreis. Seine Frau war sehr froh über den Balkon, den ihre Wohnung im Asylantenheim auf dem Ettersberg in Weimar hat. Die Aufenthaltsgenehmigungen der vier Familienmitglieder laufen aus, danach »ist alles in Gottes Händen«, denn Serbien zählt nach Ansicht des Gesetzgebers nicht zu einem politisch gefährlichen Land.

Auswanderer sind immer konkrete Menschen

Leander hat mit seiner Jahresarbeit und der Ausstellung keine besondere und schon gar keine politische Absicht verfolgt, außer der, die Protagonisten ihre Geschichten und Sichtweisen erzählen zu lassen. Im Laufe des halben Jahres, in dem die Interviews entstanden sind, haben sich für Leander erst die Fragen nach Werten im Zusammenleben herauskristallisiert. Welche Bedeutung das Auswandern hat, hängt vom Einzelnen ab. Die Bedeutung einer anderen Kultur und die Möglichkeiten gegenseitiger Bereicherung können nur individuell erfasst werden. Denn es sind immer konkrete Menschen, denen man auf den Fotos in die Augen schaut oder deren Stimme man auf den Tonträgern hört. Der Betrachter ist frei, seine eigene Position darin zu finden. Das ist die Stärke dieser Arbeit. Die Interview­sequenzen eröffnen eine vielfältige Welt, die echt ist. Und es ist tröstlich, dass ein junger Mensch so auf diese Welt schauen kann.

Zur Autorin: Gilda Bartel ist freiberuflich als Journalistin und Publizistin tätig.

Wer die Ausstellung bei sich zeigen will, kann mit Leander in Kontakt treten:

l.brandstaedt@yahoo.de