Eingeborenen stellt man dumme Fragen. Fünf Jahre Eurythmieforschung

Stefan Hasler

Forschungsdesign

Mit diesem Fachbegriff konnten die Eurythmisten zunächst gar nichts anfangen – er war ihnen suspekt und ganz einfach nicht verständlich. Charlotte Heinritz, und später Axel Föller-Mancini und Gisela Beck, gaben sich durch die langen Arbeitsphasen hindurch große Mühe, die Eurythmielehrer zu verstehen – sie betrachteten sie quasi wie einen neu aufgefundenen Stamm von »Eingeborenen« im Urwald. Sie stellten sogenannte dumme Fragen über Dinge, die die Eurythmielehrer selber nie in Frage gestellt hätten. Genau das war das Spannende in dieser Arbeitsphase.

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes sollten in insgesamt drei Publikationen veröffentlicht werden. Für den ersten und dritten Band wurde ausgemacht, dass in ihnen die Eurythmielehrer selber die Erforschung ihrer Unterrichtssituationen in die Hand nehmen. Hierfür sollte sich jeder der teilnehmenden Eurythmisten auf eine Fragestellung konzentrieren. Der zweite Band wurde von Gisela Beck betreut. Für die in ihm dargestellten Forschungen hospitierten Eurythmisten bei einzelnen ihrer Kolleginnen und Kollegen; insgesamt wurden vierzehn Eurythmie-Unterrichtsstunden besucht und nachbesprochen. Alle drei Bände enthalten über das oben Dargestellte hinaus eine Reihe von Fachartikeln unterschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzung.

Forschungskontext

Die Eurythmie ist über 100 Jahre alt. Es gilt, einen großen Erfahrungsschatz zu heben. In ihren Anfangsjahren bewegte sich die Eurythmie mit großem Idealismus in die Zukunft. Heute kann und muss inne gehalten und bewusst wahrgenommen werden, was wir in und mit dieser Kunst tun. Damit lenken wir unseren Blick weder hin zu Idealen der Zukunft, noch zurück in die Vergangenheit – »so wurde es damals gemacht« –, sondern wir betrachten die Gegenwart selbst. Wir schauen auf eine Unterrichtsstunde, reflektieren ihren Inhalt und ihre Methodik, respektieren sie in ihrem konkreten Verlauf und nehmen das in ihr Geschehene ernst – dies ist in dieser Komplexität und Gründlichkeit ein für die Eurythmie neuer Vorgang. Erst durch die Zusammenarbeit von Erziehungswissenschaft und Eurythmie, also gewissermaßen durch eine »Entfremdung« vom eigenen Tun, kann ein Abstand und damit ein wirkliches Anschauen der Tatsachen entstehen. Am wichtigsten wurden im Forschungsverlauf die »Begegnungen«: die Begegnung mit sich selbst, mit den eigenen tieferen, noch nicht bekannten Schichten; die Begegnungen mit den Hospitierenden, durch die sich neue Betrachtungsräume entwickeln konnten. Das Interesse des Anderen hilft dabei, die eigene Fragestellung zu konkretisieren und einer Klärung zuzuführen. Forschung setzt eine offene Fragegeste voraus, nicht den Wunsch, etwas beweisen zu wollen. Sie braucht die Bereitschaft innezuhalten, aus Erfahrungen zu lernen und sich neu zu finden. Selbstevaluation und ehrliche Selbsterkenntnis erfordern Mut. Erst dadurch kann eine eigentliche Ich-Beziehung zur Sache selbst entstehen.

Von den vielfältigen Erfahrungen, die die beteiligten Kolleginnen und Kollegen im Verlauf der Forschungsarbeit gemacht haben und von den hierdurch angestoßenen Veränderungsprozessen seien hier einige wesentliche benannt:

  • eine ehrliche und offene Zusammenarbeit unter Fachkollegen ist möglich;
  • es lässt sich auch für eurythmische Prozesse eine Sprache entwickeln, die allen verständlich ist;
  • es ist befruchtend für sich selbst und für andere, die eigene Arbeit mit all ihren Stärken und Schwächen zu teilen;
  • es ist hilfreich, die eigene Suchrichtung auf eine einzige Fragestellung hin zu konzentrieren;
  • der jeweilige Augenblick im Unterricht kann ernst genommen und so geistesgegenwärtig wie möglich betrachtet werden;
  • das eigene Tun und dessen Wirkungen können mit Abstand angeschaut werden, um daraus weitere Fragen und Ideen entwickeln zu können;
  • es heißt, offen zu sein für Unerwartetes, und eventuell die eigene Berufsbiographie in Frage zu stellen;
  • aus alten Gewohnheiten kann ausgebrochen werden – dies gilt es auszuhalten, auch wenn man sich dabei für einen Moment ganz »nackt« fühlen sollte.

Und worum geht es in den nächsten fünf Jahren?

Neben der beschriebenen Praxisforschung ist die Grundlagenarbeit ein Boden für jegliches aktuelle Handeln. Dafür sind folgende Projekte in Arbeit:

  • Neuherausgabe des sogenannten Querbandes »Zur Entstehung und Entwicklung der Eurythmie«. Eine vollständige Dokumentation der verschiedenen Überlieferungen der ersten Eurythmiekurse durch Marie Steiner, Tatiana Kisseleff, Mieta Waller, Lory Smits u.a. zusammen mit Rudolf Steiners Anmerkungen aus seinen Notizbüchern ist in Vorbereitung.
  • Eine Übersicht und Neuordnung der bisher über die Gesamtausgabe (und auch in Ausgaben außerhalb der Gesamtausgabe) verteilten, z. T. noch nicht veröffentlichten Eurythmie-Ansprachen, in denen Rudolf Steiner die Eurythmie von immer neuen Aspekten aus öffentlich und intern vorstellt. Erstmals ist nun auch eine genauere Einordnung der Ansprachen in den eurythmiegeschichtlichen Kontext möglich.
  • Neuauflage des Lauteurythmiekurses »Eurythmie als sichtbare Sprache«.
  • Des weiteren sind Fachbücher zum Inhalt des Lauteurythmiekurses sowie zu methodisch-didaktischen Fragen der Anfangszeit geplant.

All das wird sicher erneute fünf Jahre dauern.

Zum Autor: Stefan Hasler ist Musiker und Eurythmist. Zusätzlich zu seiner künstlerischen Bühnentätigkeit ist er seit 2003 Professor für Eurythmie an der Alanus-Hochschule. Seit 2015 ist er Leiter der Sektion für Redende und Musizierende Künste am Goetheanum.

Literatur: S. Hasler, Ch. Heinritz: Den eigenen Eurythmieunterricht erforschen, Bd. 1–3, Stuttgart 2013–2016.