Waldorfschulen drohen in der Oberstufe profillos zu werden

Michael Zech

Waldorfschulen haben sich erfolgreich als Alternativangebot mit Markenqualität etabliert. Gerade diejenigen, die Anthroposophie und Waldorfpädagogik in jüngster Zeit kritisch-skeptisch beurteilen, anerkennen das deutlich. Das freut nicht alle, aber der Erfolg wird konstatiert.

Einer der Gründe für den nachhaltigen Erfolg wird darin gesehen, dass die Waldorfschulen Einrichtungen seien, in denen die Lebensrisiken – also der raue Alltag einer global entfesselten Welt – kompensiert würden. Dass hierbei die Lernsituation von Kindergärten und Unterstufenunterricht fälschlich auf die gesamte Waldorfschule, also auch die Oberstufe übertragen wird, sollte uns zu denken geben.

Verschwunden in der Nische

Die Waldorfbewegung hat heute den Ruf, konservativer Wahrer humanistisch-idealistischer Bildungsgüter zu sein, ein Ort, an dem das 18. und 19. Jahrhundert fortexistiert: Schiller, Goethe, Nibelungenlied, Parzival, Faust, alte Geschichte sowie eine sich eher alchemistisch gebende Naturwissenschaft. Es wird die avantgardistische Qualität der Waldorfschule für die Vergangenheit konstatiert, aber gleichzeitig ausgedrückt, dass sich damit ihre reformerische Aufgabe erfüllt habe. Waldorfschulen gelten heute als ein etabliertes Nischenprodukt, das ein Angebot für die Kinder von Künstlern, von musisch und ökologisch orientierten Angehörigen der oberen Mittelschicht bereitstellt, in dem es niemand mit Milieuproblemen bildungsferner Schichten oder mit den Folgen der Leistungsselektion des standard- und rankingorientierten Schulwesens zu tun bekommt.

Hier schließen sich drei Fragen an:

• Ist es unsere Strategie, mit diesem Image auf dem Bildungs­markt gegenüber Mitbewerbern den Erfolg zu suchen?

• Deckt sich dieses Image mit unserem Selbstbild und Leitbild?

• Genügt es, mit dem gediegenen Markenimage den immer zahlreicheren Mitbewerbern und aktuellen Bildungsfragen entgegenzutreten?

Anpassung bis zur Unkenntlichkeit

Gerade in den Oberstufenklassen passen sich die Waldorfschulen in ihrer Struktur, Methodik und, was am schwersten wiegt, in ihrem Selbstverständnis dem Regelschulsystem an. Immer häufiger wird die Qualität der eigenen Schule durch die Zahl und den Erfolg der Prüfungsabsolventen ausgedrückt. Seitdem das Zentralabitur in allen deutschen Bundesländern eingeführt wurde, werden Inhalt und Vorgehen in den Dienst der Prüfungsvorbereitung gestellt.

Um kein Missverständnis zu erzeugen: Ich finde es richtig, möglichst viele Schüler für einen erfolgreichen Schulabschluss vorzubereiten, solange dieser den Zugang zu Weiterbildung und zu erfolgreicher Teilhabe reguliert.

Das Problem liegt in dem Missverständnis, der Bildungs­erfolg einer Waldorfschule drücke sich in den Abschlussprüfungen aus. Konkreter: Es entsteht ein Problem, wenn die Waldorfschulen Elemente veräußern, die ihr Angebot gerade heute interessant machen, wenn also die heutige avantgardistische Qualität der Waldorfschule demontiert wird. Wenn heute gefordert wird, geschichtliches Verstehen und Bewusstsein so aufzubauen, dass die eigene Kultur in der Begegnung mit dem Anderen klarer verstanden wird und fremde Kulturen selbstständig erschlossen werden können, dann liegen gerade in der ursprünglichen Intention des Geschichtsunterrichts an Waldorfschulen konkrete Möglichkeiten und Angebote, solchen modernen Bildungsanforderungen zu begegnen.

Umso bedauerlicher ist es, wenn Unterrichtsepochen, in denen diese Qualitäten entwickelt werden, zugunsten der Abiturvorbereitung gestrichen werden. Ich denke an die Umwidmung der Epochen zur frühen und alten Geschichte in der 10. Klasse sowie zur Erschließung der mittelalter­lichen Welt in der 11. Klasse und vor allem an die Streichung der Überblicksepoche in der 12. Klasse mit ihrer Möglichkeit, Geschichte geschichtsphilosophisch und erkenntnistheoretisch zu reflektieren. Stattdessen wird in der Oberstufe fast ausschließlich die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts behandelt. Hier verpassen wir die Chance, mit und aus der Waldorfpädagogik interessant zu sein. Wir vertun die Chance, an wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskussionen teilzunehmen, um so die künftige Bildung mitzugestalten. Wenn, wie dies vielerorts üblich ist, Lehrer für die Oberstufenklassen vorwiegend nach ihrer Einsatzberechtigung im Abitur eingestellt werden, ohne die Verpflichtung, sich in die Waldorfpädagogik und vor allem in die Methodik und Didaktik ihrer Unterrichtsfächer im waldorfpädagogischen Sinn einzuarbeiten, dann passt sich die Waldorfpädagogik an das Regelschulsystem an. Das kostet sie ihre Identität und ihre Entwicklungsmöglichkeit. Wieder schließen sich hier Fragen an, die einer baldigen Klärung bedürfen:

• Können und wollen wir uns als Waldorfschulen wirklich als Privatgymnasium mit nettem Lernklima profilieren?

• Ist Anpassung an bestehende Normen und Verzicht auf besondere Merkmale Ausdruck von Schulqualität an Waldorfschulen? Drückt sich die Schulqualität an Waldorfschulen dadurch aus, dass sie sich an bestehende Normen anpassen und auf besondere Merkmale verzichten?

• Ist das besondere Qualitätsmerkmal von Jugendpädagogik an den Waldorfschulen hinreichend klar erarbeitet?

Mit dem Durchschnitt zufrieden

Das dritte Problemfeld ist die Tendenz zur Durchschnittlichkeit oder Anspruchslosigkeit. Hier liegt vielleicht die ernsteste Bedrohung unserer Schulkultur. Das beginnt schon da, wo über Schüler selektierend gedacht und geurteilt wird, oft um damit das Lernniveau zu rechtfertigen: schwache Kinder, viele Hauptschüler, keine Abiturienten, raus aus der zweiten Fremdsprache, »Lebenskunde«-Zug, schwierige Eltern. Hier wird ein gravierendes Missverständnis unseres Förderauftrags deutlich, denn das Unterrichtsniveau wird mit der tatsächlichen oder vorgeblichen Voraussetzung erklärt, die die Schüler durch Elternhaus und außerschulische Einflüsse mitbringen. Damit befinden wir uns in bester Nachbarschaft zum deutschen Regelschul­system, dem ja international vorgehalten wird, es zementiere die Abhängigkeit von der sozialen Herkunft. Statt hier einen Anlass zu sehen, unsere eigene Lehrerqualifikation zu diskutieren, übertragen wir das Problem der Unterrichtsqualität auf die Schülerbiographie und sprechen vom Lernvermögen unserer Schüler. Nur die Oberstufenlehrer sehen die Probleme gelegentlich auch in der Qualität des Unterrichts, meist aber beim Klassenlehrer, der ihnen die Schüler gewissermaßen hinterlässt.

Mit solchen Haltungen etablieren wir eine Orientierung an Durchschnittlichkeit, wir resignieren, statt der Realität mit gesteigertem Anspruch zu begegnen. Und das hat Folgen, sowohl nach außen als auch nach innen. Nach außen, weil die Waldorfschulen tatsächlich vielerorts nicht mehr zu den Schulen zählen, an die man seine Kinder schickt, wenn man deren individuelle Anlagen zu fördern wünscht. Nach innen, weil in der Oberstufe nicht selten die Schüler die Schule verlassen, die einen eigenen Lernanspruch entwickelt haben. Sie beklagen sich über Langeweile und Unterforderung. Teilweise emigrieren sie auch nach innen; sie bleiben, sind aber von ihrer Schule enttäuscht.

Haben wir das Image, Oasen der Leistungsgesellschaft zu sein, selbst verinnerlicht? Wir verstehen Leistungsbereitschaft zwar richtig als etwas, was im Individuum erwachen muss, bieten aber für Schüler, bei denen dies nicht geschieht, zu wenig Anlässe, an denen sich der Selbstanspruch entzünden kann. Für den Unterricht heißt das: ihn so zu gestalten, dass er die Welt nicht schulgerecht vereinfacht und reduziert, sondern an die Wirklichkeit anschließt. Dazu brauchen wir gerade in der Oberstufe Lehrerinnen und Lehrer, die fachlich kompetent sind. Solche Lehrer gewinne ich aber nicht, wenn ich in Lehrerseminaren Chemielehrer überwiegend mit Eurythmie und Menschenkunde auf ihre Unterrichtstätigkeit vorbereite – wobei diese Elemente selbstverständlich wesentlich in der Lehrerbildung sind – oder durch eine akademische Ausbildung, die die Welt nur mit Modellen erklärt.

Wir müssen die Lehrer vielmehr fachdidaktisch so ausbilden, dass sie die Welt in ihrem Unterrichtsfach zu einem Ereignis werden lassen – einem Ereignis, in dem die Schüler das authentische Interesse und die fachliche Kompetenz ihrer Oberstufenlehrer erleben. Wir brauchen Lehrer, die mit den Schülern die Welt phänomenologisch durch symptomatologische Betrachtungen erschließen und so Fragen generieren, die das Erkenntnisbestreben der Schüler nachhaltig tragen. Denn jeder Unterricht, der die Komplexität der Phänomene dieser Welt zu abprüfbaren Ergebnissen banalisiert oder auf Modellvermittlung reduziert, erzeugt Langeweile und Desinteresse.

Zukunftsperspektiven

Brechen wir in den nächsten Jahren in der Waldorfschul-Bewegung auf, indem wir uns am Diskurs um Bildung mit Ideen beteiligen, die dadurch entstehen, dass wir unsere Fachinhalte und Unterrichtsgänge untereinander, aber auch im akademischen und politischen Rahmen diskutieren, befragen und vertiefen.

Entwickeln wir wieder ein politisches Selbstverständnis als zivilrechtliche Einrichtung. Statt uns Normen anzupassen, sollten wir Normen initiativ diskutieren und neue etablieren. Dazu müssen wir uns intensiver mit dem beschäftigen und auseinandersetzen, was heute gedacht und diskutiert wird und uns fragen, was aus den anthroposophischen Grundideen der Waldorfpädagogik für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar gemacht werden kann.

Vor allem aber müssen wir unseren eigenen Anspruch an die Unterrichtsqualität wieder beleben. Durchschnittlichkeit resultiert aus Anspruchslosigkeit! So muss die Frage angegangen werden, wie wir an unseren Schulen eine Kultur der Initiative für Fortbildung und Forschung schaffen.

Die Lehrerbildung für Oberstufenpädagogen sollte auf ein fundiertes, fachwissenschaftliches und fachdidaktisches Niveau gestellt werden, wozu vor allem eine bessere finanzielle Ausstattung und unter Umständen deren Qualitätssicherung durch eine entsprechende Zertifizierung gehört.

Auch sollte die Einarbeitung sowie die Fort- und Weiterbildung in den Arbeitsverträgen der Lehrer verankert und im Etat der Schule berücksichtigt werden. Notfalls müsste ein Label eingeführt werden, das Waldorfschulen mit Waldorf­identität von den Schulen unterscheidet, die nur den Namen nützen – also ein Label für Orte der Qualität!

So entstünde auf der Basis von Eigeninitiative und Autonomie eine im obigen Sinne definierte Leistungskultur, die Schüler aus anderen Schulen deshalb an unsere Schulen wechseln ließe, weil in unseren Oberstufen Lernen durch Begegnung stattfindet.

Gekürzter Beitrag zum Kongress »Lernen durch Begegnung – Herausforderung Oberstufe« in Hannover am 30.9.2011

Zum Autor: Dr. M. Michael Zech, Jahrgang 1957, seit 1984 Waldorflehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, zur Zeit Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel.