»Wir trotzen dem Selektionsbazillus«. Eine staatliche Gesamtschule in Göttingen verweigert sich dem Turbo-Abitur

Erziehungskunst | Herr Vogelsaenger, eigentlich eine etwas peinliche Situation für unseren heutigen Bundespräsidenten Wulff, der Ihnen schon als niedersächsischer Landeschef und Gesamtschulgegner das Leben schwer gemacht hat: Nun musste er Ihnen in Berlin den Deutschen Schulpreis überreichen.

Wolfgang Vogelsaenger | Aber er hat sich immerhin dieser Situation gestellt. Ich habe ihn noch einmal zu uns eingeladen.

EK | Warum bedeutet die Schulzeitverkürzung das Ende Ihres pädagogischen Konzepts?

WV | Unser pädagogisches Konzept wurde vor 40 Jahren von Lehrern, Wissenschaftlern, Politikern, Architekten und Eltern nach schwedischem Vorbild entwickelt. Es ist ein stimmiges Konzept, das seit 36 Jahren Erfolg in der deutschen Praxis hat. Man kann nicht einfach ein Element verändern, ohne das Gesamtkonzept zu gefährden. Wir nehmen uns viel Zeit für die Kinder. Zeit ist einer der wichtigsten Faktoren. Ich kann hier nur einige Aspekte nennen: Die Klassenlehrer sind mit viel Zeit in ihrer Klasse, auch fachfremd. 12 bis 15 Stunden in der Woche, sechs Jahre lang. Hier wird die Beziehung aufgebaut, die für erfolgreiches Lernen, für erfolgreiche Entwicklungsprozesse notwendig ist. Unsere Lehrer nehmen sich an 20 Abenden im Jahr Zeit, ihre Schüler und Eltern an Tischgruppenabenden in den Elternhäusern zu besuchen. Wir sind seit 40 Jahren Ganztagsschule, weil wir diese Zeit brauchen. In den letzten zehn Jahren wurde diese Zeit aber durch die Landesregierung von 2,2 Lehrerstunden pro Schüler auf brutto 1,5 Lehrerstunden heruntergefahren. Wenn wir jetzt noch einmal ein ganzes Schuljahr einsparen sollen, geht das zu Lasten von Prozessen, die die »Bildung Plus« ausmachen, die über das Fachlernen hinausgehen. Ich weiß, dass die Kinder unter einer Schulzeitverkürzung in jeder Hinsicht leiden würden, die Ergebnisse der Schule ebenfalls.

EK | Was ist das Besondere an Ihrem pädagogischen Konzept?

WV | Wir streben an, einen repräsentativen Querschnitt der Göttinger Schülerschaft aufzunehmen und diesen als Chance, nicht als Last zu begreifen. In den Tischgruppen bilden Schüler heterogene Lernteams, in die sie ihre vielfältigen Chancen und Möglichkeiten einbringen können. Vorbild für die von ihnen verlangte Teamarbeit ist die ganze Schule. Der Bildungsbegriff ist vielfältig. Neben den kognitiven Bereichen sind nahezu alle Kinder in den Bereichen Musik, Theater, Zirkus, Sport, Garten, Kochen, Werken usw. engagiert. Wir versuchen, jedem Kind individuell gerecht zu werden, keines zu unter- oder zu überfordern, jedem die Möglichkeiten zu bieten, die die individuelle Entwicklung stützen.

EK | Wie funktionieren die Tischgruppen und wie betten sie sich in das Schulganze ein?

WV | Es gibt keine der 36 Klassen in den Jahrgängen 5 bis 10, die nicht in Tischgruppen arbeitet. In jeder Klasse gibt es fünf Tischgruppen. Jede Tischgruppe bildet das klassische Schulsystem ab: ein »Hauptschüler«, zwei »Realschüler« und drei »Gymnasialschüler«. In den Integrationsklassen ist auch noch ein »Sonderschulschüler« dabei. Die Tischgruppen sind keine Sitzgruppen, sondern Arbeitsteams. Sie erhalten komplexe Aufgaben, die sie im Team lösen müssen. Dabei ergänzen und helfen sie sich je nach ihren Stärken und Schwächen. Sie organisieren ihren Anteil an der Aufgabenstellung und sind bereit, nach Bearbeitung ihrer Aufgabe, jeder auf seinem Niveau die Ergebnisse zu präsentieren. So wird niemand hängen gelassen. Jeder trägt seinen Anteil zur Lösung der Aufträge bei. Niemand erlebt sich als minderwertig. Dieses Lernarrangement gibt es seit 36 Jahren. In 36 Klassen mit jeweils 30 Schülern. Jeder neue Lehrer, jeder neue Schüler, alle Eltern erfahren dies als zentrales Lernarrangement. Unterschiede sind normal, jeder ist anders anders, jeder wird so gefordert und gefördert, wie es möglich ist. Individuelles Fortkommen kann auf die Sicherheit der Gruppe vertrauen, es geht nicht nur um das Fortkommen des Einzelnen, sondern auch um das Fortkommen der Gruppe. Der künftige Maurer arbeitet mit dem künftigen Architekten; sie lernen, ein gemeinsames Projekt zu erstellen, Wenn sie später auf der Baustelle zusammentreffen, können sie ein Haus bauen.

EK | Das Klassenlehrerprinzip erinnert ein bisschen an Waldorf. Machen Sie damit gute Erfahrungen?

WV | Das Klassenlehrerprinzip hat nichts mit Schuletiketten zu tun. Es ist elementar für die Entwicklung von Menschen, von Kindern. Die Fachdidaktik ist nützlich, die Beziehungsdidaktik ist notwendig. Leider lernt man diese nicht, vielleicht kann man sie auch nicht lernen. Wer Kinder nicht mag, sollte kein Lehrer werden, das kann man nicht lernen. Schulen sind gemeinhin Institutionen, in denen man keine Kinder mögen darf. Diese Aussage bitte ich nicht mit Odenwald in Verbindung zu bringen. Bewerten, Korrigieren, Bloßstellen, Sitzenlassen, Abschulen, all das sind schulimmanente Prozesse, die nicht möglich sind, wenn man Kinder mag und in ihrer Vielfalt akzeptiert. Wenn aber die Klassenlehrer, die eine 5. Klasse übernehmen, wissen, dass sie diese Klasse bis zur 10. Klasse betreuen, ohne jemanden sitzenzulassen oder abzuschulen, dann kann sich eine verantwortliche Beziehung entwickeln, die Kindern, Eltern und Lehrern gut tut. Eltern sollte man auch nicht alle zwei Jahre wechseln, warum soll das für Klassenlehrer gelten? Ich habe das Klassen- lehrerprinzip auch schon an einem Gymnasium in Hannover vor 30 Jahren eingeführt. Das ist eine Frage von Schulkultur. Ohne dieses Prinzip kann es keine gute Schule geben.

EK | Es kommen nicht wenige Schüler an Ihre Schule mit Hauptschulempfehlung und legen dann doch das Abitur ab. Wenn sie zumindest bis zur achten Klasse keinen Notendruck haben, was motiviert ihre Schüler, zu lernen, ja sogar Bestleistungen im Abitur zu erbringen?

WV | Noten gehören abgeschafft. Ihre einzige Legitimation besteht darin, Studienplätze und damit Berufschancen zu verteilen. Wir erleben aber gerade, dass diese »Bestenauslese« scheitert. Schüler mit einem Einserzeugnis werden Arzt, weil sie eine Eins haben. Nicht weil sie Arzt werden wollen. Deswegen muss man nun Prämien zahlen, wenn sie auf das Land sollen. Eliteschüler haben nur alles richtig gemacht. Sie würden auch das Telefonbuch auswendig lernen, wenn man es ihnen auftragen würde. Aber genau diese Haltung brauchen wir nicht für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir brauchen die, die nicht alles mitmachen, die nicht perfekt sein wollen. Die es in Kauf nehmen, unbequem zu sein. Ich kann als Lehrer relativ schnell Zensuren verteilen. Eine Klasse, eine halbe Stunde. Die Schüler erfahren, auf welchem Rang einer internen Klassenskala sie sich befinden. Unsere Lernentwicklungsberichte zwingen die Lehrer, sich ganz genaue Gedanken über die Lernentwicklung jedes einzelnen Schülers zu machen und die Briefe an sie so zu schreiben, dass sie sich wiedererkennen, sich gewürdigt fühlen. Die Schülerlernentwicklungsberichte ergänzen die Lehrerberichte, machen diese erst gültig. Nur so kann man individuelle Lernentwicklungen würdigen. Das motiviert Schüler und Lehrer zu Bestleistungen. Wir können uns wegen des Verzichts auf Zensuren mit jeder anderen Schule in Europa messen.

EZ | Der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther unterstützt die IGS. Er sagt: »An dieser Schule wird hirngerecht gelernt«. Was meint er damit?

WV | Hüther sagt: »In heterogenen Gruppen lernen Kinder besser. Verschiedenheit ist die Voraussetzung für Individualität.« Die Jagd nach homogenen Gruppen prägt und vergiftet das deutsche Schulsystem. Wenn man konsequent darauf setzt, dass jedes Kind willkommen ist, nicht unter- oder überfordert wird, dann ergibt sich eine Lernsituation, die angstfrei ist, die die Eigenheiten jedes Kindes akzeptiert und nutzt. Nur so können Kinder für das Lernen, für die Schule begeistert werden. Dies ist die zentrale Aussage meines Freundes Gerald Hüther: Menschen lernen nur dann, wenn sie begeistert werden. Klassisches Lernen setzt auf Pawlow. Auf Belohnung und Bestrafung, nicht auf Begeisterung. Jeder, der unsere Schule im Alltag besucht, kann diese Begeisterung, diese Identifikation mit der Schule spüren, erleben. Das fasziniert mich als Schulleiter jeden Tag, das fasziniert auch Gerald Hüther.

EK | Ihr Erfolg hing, wie in der Begründung der Jury nachzulesen, nicht nur an der Fachkompetenz der Lehrer, sondern auch an deren Sozialkompetenz. Was tun Sie dafür an Ihrer Schule?

WV | Schüler sollen Sozialkompetenz erwerben, das ist unstrittig. Wenn dies aber Ziel von Schule ist, kann dieses Ziel nur erreicht werden, wenn Lehrer ebenfalls über Sozialkompetenz verfügen. Wir »zwingen« unsere Lehrer und Lehrerinnen in Prozesse, in denen sie diese, wenn noch nicht vorhanden, erwerben müssen. Unsere Lehrerteams sind wie all unsere Teams der Schule (Hausmeister, Sekretärinnen, Mensa, Schulassistenten, Sozialpädagogen…) eigenverantwortlich, das heißt, dass sie in ihrem Verantwortungsbereich auch wirklich etwas bestimmen können. So können die Tutoren in ihrer Stammgruppe ihren Schulalltag eigenverantwortlich gestalten, die Jahrgänge können ihre Stunden-, Vertretungs- und Aufsichtspläne eigenverantwortlich regeln und vieles andere mehr. Sie sind zur Kommunikation gezwungen, weil sie nur durch gelungene Kommunikation ihre eigenen Arbeitsbedingungen positiv gestalten können. Sie müssen sich mit all den menschlichen Facetten in ihrem Team auseinandersetzen, um sich wohl zu fühlen. Das fördert die Sozialkompetenz.

EK | Wo Ihre Schule so auf politischen Widerstand stößt, wäre es nicht an der Zeit, die Schulen in Freiheit aus der staatlichen Trägerschaft zu entlassen? Aktuelle Umfragen belegen, dass immer mehr Eltern sich das wünschen.

WV | Ich bin absolut gegen die Entpflichtung des Staates von der Verantwortung für die Bildung unserer Kinder. Wir können und dürfen das nicht privaten Interessensgruppen überlassen. Ich will nicht, dass Bertelsmann das deutsche Schulsystem regiert. Wir müssen in Deutschland dahin kommen, dass sich die politischen Parteien wie damals in Schweden darauf einigen, was denn das Kernkonzept von guten Schulen ist. Dann darf dieses Kernkonzept nicht angetastet werden, wenn in Bremen eine andere Fahne auf dem Rathaus hängt. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, auch wenn ich täglich mit den nicht nachvoll­ziehbaren ideologischen Setzungen zu kämpfen habe. Irgendwann wird man auch in der Bildungspolitik anerkennen müssen, dass die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist. Ich glaube, dass ich das noch erleben werde.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.