Übergänge meistern lernen

Monika Kiel-Hinrichsen

Catrin M., Mutter dreier Kinder zwischen 6 und 14 Jahren, hat sich zu einem Elternberatungsgespräch angemeldet. Sie hat es eilig mit einem Termin, weil das »Wasser bereits überkocht«. »Was hat denn das Wasser zum Überkochen gebracht?«, ist meine erste Frage. Da sprudelt es aus ihr heraus: Sie habe das Gefühl, in einer Dauerspannung mit ihren Kindern zu leben. Ist die eine Krise gerade überwunden, bricht bereits die nächste herein. Aber eigentlich sei sie wegen Marlin (14) da. Catrin M. berichtet, dass sie sich schon seit einiger Zeit nichts mehr sagen lasse. Sie hat angefangen, sich zu schminken, kommt immer öfter am Abend zu spät nach Hause und nörgelt an allem und jedem in der Familie herum. Sie verweigert die Mithilfe im Haushalt und schließt sich bei Konflikten in ihr Zimmer ein. Kommt es zum Knall, sieht sie danach wie ein Häufchen Unglück aus und erinnert mehr an ein Kind als an eine Jugendliche.

»Wann ging es Ihnen besser mit Marlin?« Catrin M. braucht nicht lange nachzudenken: »Als ich noch mit ihr alleine war! Eigentlich war sie auch da schon ein intensives Kind.«

Auf meine Frage »Haben Sie Lust, mit farbigen Tüchern einmal auf dem Boden ihre Familienmitglieder darzustellen?«, nickt sie bereitwillig. Catrin M. wählt für Marlin ein rotes Tuch aus und legt es weit ausgebreitet auf den Boden. Für sich wählt sie ein mittelblaues, für ihren Mann ein grünes Tuch. Ihre Tochter sei ein fröhliches, draufgängerisches Kleinkind gewesen, das schnell Kontakt zu anderen Kindern habe aufbauen können. Seit der Geburt der Schwester Mia (9) sei sie sehr eifersüchtig geworden und habe sie und ihren Mann auf Trab gehalten. – Catrin M. wählt für Mia ein gelbes Tuch und verkleinert die Größe des roten ein bisschen. »Mia ist unser kleiner Sonnenschein, sie war und ist so ganz anders als Marlin – eben nicht so intensiv!«

»Was gefällt Ihnen an Ihrer Tochter Marlin?« Catrin M. hält inne, lacht … »Ja, eigentlich finde ich ihre temperamentvolle Art auch gut. Sie bringt Leben in unsere Familie. Sie ist so kraftvoll. Was sie sich vornimmt, tut sie auch. Als Jasper vor sechs Jahren geboren wurde, war sie mir eine richtige Stütze und eine fürsorgliche Schwester.« Catrin M. wählt für Jasper (6) ein dunkelblaues Tuch und legt es dicht an ihr mittelblaues heran. Sie schiebt die anderen Tücher ein wenig hin und her, bis sie das Gefühl hat, dass es stimmt. »Wenn ihr Mann jetzt hier wäre, was glauben Sie, würde er über ihre Tochter sagen?« – »Der würde Partei für Marlin ergreifen. Ich denke, er würde sagen: Sie braucht jetzt mehr Freiräume, muss sich ausprobieren, Marlin muss man mehr an der langen Leine halten und ihr Vertrauen entgegenbringen.«

Catrin M. fängt an zu weinen. Vertrauen hat sie in ihrer Kindheit nicht kennengelernt. Sie wurde von ihren Eltern streng erzogen und kurz gehalten. Eigentlich beneide sie Marlin um ihre Intensität und ihr Selbstbewusstsein. Ich frage: »Stellen Sie sich vor, es würde über Nacht ein Wunder geschehen und Sie wären so intensiv wie ihre Tochter. Wer würde die Veränderung zuerst bemerken?« – »Naja, Marlin würde es wohl als Erste merken. Ich wäre dann weniger anklagend und leidend. Ich würde mich mehr für die interessante Seite der Pubertät öffnen, zum Beispiel mir mal die verrückte Musik anhören, vielleicht mal mit ihr auf ein Konzert gehen oder so. – Ja, das ist es: Mehr Vertrauen in die Pubertät haben. Irgendwie ist sie ja auch noch ein Kind und in einem Übergang.« Das war mein Stichwort! Denn jetzt hatten wir eine gemeinsame Grundlage entwickelt, um auf die Übergänge und Krisen in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu blicken.

Übergänge gehören zum Leben. Sie läuten einen neuen Entwicklungsabschnitt ein, der mit Abschiedsschmerz verbunden ist. Bereits mit der Geburt eines Kindes können junge Eltern einen solchen Übergang erleben. Waren sie vorher ein Paar, so werden sie jetzt zu einer Familie, in der sie sich als Partner neu definieren müssen. Nicht selten mündet dieser Übergang in eine Ehekrise.

Ähnlich verhält es sich mit dem Trotzalter, in dem das kleine Kind nach Autonomie strebt und den Eltern erstmalig ein deutliches Nein entgegensetzt. So manche Eltern-Kind-Beziehung wird jetzt hart geprüft. Es ist der Abschied vom niedlichen Kleinkind, das noch gut zu führen war und jetzt zum Kindergartenkind heranreift.

Mit dem Zahnwechsel und der Einschulung erleben dann alle Eltern deutlich einen erneuten Übergang. Wieder nabelt sich das Kind ein Stück von seinen Eltern ab. »Wackeln die Zähne, wackelt die Seele« sagt ein altes Sprichwort und drückt damit den krisenhaften Umbruch aus.

Im neunten Lebensjahr, in dem viele Kinder durch ihre erste, bewusst erlebte Krise hindurchgehen, beginnt der Abschied von der Kindheit, die sie mit der Pubertät endgültig hinter sich lassen. Dieser Übergang scheint für alle Familienangehörigen am krisenreichsten zu sein. Bei allen Übergängen geht es um das Ich, das sich tiefer in den Körper und die Seele einsenkt, das einst zum Dirigenten des eigenen Seelenorchesters und des Körpers werden soll.

Die drei Phasen des Übergangs

Der französische Ethnologe Arnold van Gennep hat sich intensiv mit rituellen Übergängen beim Wechsel von einer Entwicklungsstufe in die nächste befasst. Er fand heraus, dass Übergänge drei Phasen durchlaufen: 1. die Trennungsphase, die Lösung des Einzelnen vom bisherigen Status; 2. die Schwellenphase, die eigentliche Umwandlung, die nach Victor Turner, einem englischen Schüler van Genneps, von hoher emotionaler Sensibilität gekennzeichnet ist; 3. schließlich die Phase der Angliederung an den neuen Status.

Die Pubertät bringt einschneidende Veränderungen mit sich, die zwiespältige Gefühle im Jugendlichen auslösen: cool sein und doch unsicher. Diese Ambivalenz zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Jugendlichen die körperlichen Veränderungen ausblenden und ein noch kindliches Verhalten an den Tag legen. Gleichzeitig grenzen sie sich zunehmend von den Eltern ab. Sie werden reizbar und aggressiv: Sie halten die Eltern für blöd, altmodisch und engstirnig und lehnen sich gegen sie auf. Sie fühlen sich noch hin- und hergerissen zwischen dem kindlichen Abhängigkeitsverhalten und dem jugendlichen Autonomiebedürfnis.

Das Erleben dieses Zwiespalts ist die Stufe vor dem tiefsten Punkt des Schwellenübertritts. Die Durchgangsphase ist vom Abschiednehmen geprägt, mit Trauergefühlen verbunden und mündet schließlich in zunehmende Akzeptanz der Pubertät. Jetzt wird mit den neuen Seelenfähigkeiten experimentiert: Musikrichtungen und Freundschaften werden gewechselt, die Zimmer ausgemistet und umgestellt, ein neuer Haarschnitt und neuer Bekleidungsstil sind fällig. Eine große Spannbreite, die für Eltern oft unverständlich ist, offenbart neue Potenziale der eigenen Kinder. Die Jugendlichen beginnen nach der noch verschleierten Zukunft zu suchen. Neue Entschlüsse werden gefasst und in das bisherige Leben integriert.

Wir finden durch das Wissen um die Phasen der Übergänge Verständnisgrundlagen für Eltern, Kinder und Jugendliche, die Orientierungshilfen bieten und Unsicherheiten in diesen vermindern. Rituale können an dieser Stelle helfen, den Übergang von der Kindheit zur Jugend zu würdigen. So kann der 14. Geburtstag besonders hervorgehoben werden: Eine gemeinsame kleine Reise mit dem Jugendlichen, eine aufregende Mutprobe in der Natur, ein Rundflug über die Stadt für den »neuen Überblick«, die Konfirmation oder Jugendfeier, welche deutlich werden lässt, dass sich Erziehung jetzt in Begleitung verwandelt und der Jugendliche nun neue Rechte und Pflichten hat. Bei den Mädchen kann die erste Menstruation, bei den Jungen der Stimmbruch als eine Art Aufnahme in das Frau-, bzw. Mannsein mit individuellen Symbolen gewürdigt werden. Zum Beispiel für die Mädchen ein silbernes Döschen für die OB’s, für die Jungen ein besonderes Taschenmesser. Es kann auch eine gemeinsame Renovierung des Kinderzimmers, verbunden mit einem neuen Möbelstück, ein verbindendes Ritual darstellen. Der Wunsch nach mehr Freiheit sollte gepaart sein mit zunehmender Verantwortung im Familienleben. Neue Regeln in der Hausarbeit können sich dann die Waage halten mit mehr Freiräumen im Außen.

Übergänge müssen von Eltern und Kindern gleichermaßen vollzogen werden, denn diese krisenhaften Prozesse gehen auch an den Eltern nicht spurlos vorüber. Oft sind die körperlichen Veränderungen der Kinder der erste Vorbote der Pubertät und ein Aufwacherlebnis. Nun soll die Kindheit schon vorbei sein? Eltern müssen sich von dem früheren Bild ihres Kindes lösen, bereit sein für eine ganz neue Seite an ihm und sich frei machen von den eigenen Erfahrungen ihrer Pubertät. Zum Abschied gehört auch trauern. Eine bewusst vollzogene Trauer verhindert, das man ewig der Kindheit nachtrauert, und verhilft dazu, die Kinder zu sehen, wo sie gerade stehen. Entwicklung verläuft nicht statisch, deshalb brauchen Übergänge ein freudiges Experimentieren auf beiden Seiten. Rituale verhelfen Eltern und Jugendlichen zu einer Integration der erlebten Verunsicherungen. Zwei Menschen, vertraut und fremd zugleich, lernen sich neu kennen.

Den Abschied anerkennen

Catrin M. merkt, dass sie noch nicht Abschied nehmen mag von ihrer Erstgeborenen, erlebt den Schmerz, dass es nie wieder so sein wird wie früher. »Stellen Sie sich vor, wir treffen uns in einem Jahr wieder, was glauben Sie, werden Sie mir über das Verhältnis zwischen Marlin und Ihnen erzählen?«, frage ich. Catrin M. ist zuversichtlich: »Ich habe mich auf Marlin einstellen, sie neu schätzen und lieben gelernt. Sie ist sicherer in sich geworden und ich auch in mir. Ja, und ich kümmere mich wieder mehr um mich selbst. Ich habe auch einen neuen Entwicklungsschritt gemacht!«

Ipsum-Institut Kiel: Elternberaterausbildung in drei Modulen:  16.-17.5.2014: I. Beraterkompetenzen entwickeln;  31.10.-1.11.2014: II. Beziehungskompetenzen entfalten; Januar 2015: III. Erziehungskompetenzen stärken; Tel.: 0431-8001754, Mail: kielhinrichsen@ipsum-kiel.de, www.ipsum-kiel.de

Zur Autorin: Monika Kiel-Hinrichsen arbeitet in freier Beratungspraxis und leitet das Ipsum-Institut in Kiel, wo in einer 17-monatigen Ausbildung Menschen zum Elternberater/ zur Elternberaterin ausgebildet werden. Sie ist als Dozentin im Bereich Kindheitspädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter/Bonn tätig.