Was wären wir ohne ihn? Herausforderung Alkohol

Helmut Hinrichsen

Obwohl die Einnahme von alkoholhaltigen Getränken schnell zu Abhängigkeit und Sucht führen kann, wird der Alkohol in unserer Kultur als »Genussmittel« bezeichnet. Wenn jemand Wein oder Sekt trinkt, geht man davon aus, dass er ihn genießt. Die Vorfreude auf ein schön gekühltes Bier nach anstrengender Tätigkeit im Sommer kann wohl fast jeder nachempfinden. Das Gläschen Sekt bei einem Empfang oder in der Pause an der Oper gehört zum gepflegten Standard. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass der Alkohol bei der Umsetzung im Körper einen Zellgiftstoff (Acetaldehyd) produziert.

Diese hochgiftige Substanz entsteht zwangsläufig jedes Mal, wenn das »Genussmittel« konsumiert wurde, man kann darauf keinen Einfluss nehmen. Das Acetaldehyd zerstört Zellen vollkommen und unwiederbringlich. Es kann alle Zellen im gesamten Körper treffen. Meist sind es jedoch als erstes diejenigen der Leber, die ihre Funktionen verlieren (Fettleber und Schrumpfleber) und Nervenzellen, die vernichtet werden, hauptsächlich im Gehirn (Gedächtnisverlust).

Wein – eine alte Kulturpflanze

Wie lässt sich der eingeschränkte Blick auf den Genuss als Kulturfaktor und das gleichzeitige Ausblenden des Zerstörungspotenzials beim Umgang mit Alkohol verstehen? Ein Ansatz ist in unserer Geschichte zu suchen: Wein gehört zu den ersten Kulturpflanzen und ist schon zu Zeiten der Sumerer (3.000 v. Chr.) nachweisbar. Aus Ägypten kennt man Darstellungen von der Traubenernte und Weinherstellung aus der Zeit 2.300 v. Chr. Der Wein wurde damals von Priestern zu kultischen Handlungen genutzt, sein Gebrauch unterlag strengen Ritualen und besonderen Vorbereitungen. Alkohol hat eine direkte Wirkung auf das seelische Empfinden und beeinflusst das Körpergefühl. Im Rahmen des Kultus konnten die eingeweihten Priester diesen Zustand für ihre Aufgaben nutzen. Derartige Rituale gibt und gab es in allen Kulturkreisen. In islamischen Ländern ist Alkohol verboten, dafür sind Cannabisprodukte dort um so verbreiteter. In Südamerika wurden schon in ältesten Zeiten cocahaltige Blätter gekaut; in China galt Opium als bewusstseinsförderndes Mittel; bei den Indianern in Nordamerika war es die gemeinsame Pfeife am Feuer und auch in Afrika verhalfen unterschiedliche Stoffe oft zu ekstatischen Zuständen. Allen gemeinsam war die strenge Regulierung, ja Sanktionierung des Gebrauchs, meist durch die Religion.

Laut Steiner hatte der Alkohol »die Aufgabe, … den menschlichen Leib so zu präparieren, dass dieser abgeschnitten wurde vom Zusammenhang mit dem Göttlichen, damit das persönliche ›Ich-bin‹ herauskommen konnte«.

Im Dionysos-Kult nutzte man den Alkohol daher als Mittel zur Schulung der Selbstwahrnehmung. Menschen auf dem Einweihungsweg mussten stark alkoholisiert schwierigste Aufgaben zum Teil unter Lebensgefahr lösen und befanden sich somit in der von Steiner genannten Auseinandersetzung zwischen der Wirkung des Stoffes und der selbstbestimmten Persönlichkeit.

Von den Wikingern ist bekannt, dass sie im Rahmen regelrechter »Saufgelage« versuchten, der Alkoholwirkung Herr zu werden. Wer betrunken noch in der Lage war zu kämpfen, galt als Held. Bewusstseinsgeschichtlich betrachtet, nutzten unsere Vorfahren also den Alkohol, um sich von den geistigen Mächten zu emanzipieren, unter deren Leitung sie standen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der menschliche Körper Alkohol auch selber herstellt. Eine geringe Menge zwar (0,00027 Promille), die jedoch den menschlichen Organismus feiner, empfindsamer, aber auch verletzbarer macht. Offensichtlich kann durch die Neutralisierung dieses körpereigenen Alkohols im feinstofflichen Bereich ein Gleichgewicht zwischen dem Nerven-Sinnes-System des Menschen und dem Ich hergestellt werden. Je mehr Alkohol man aufnimmt, um so mehr gerät dieses Gleichgewicht aus den Fugen. Wenn der Alkohol einst eine »Individuationshilfe« war – ist er dies heute auch noch, nachdem diese Individuation schon sehr weit, manche meinen, sogar schon zu weit, vorangeschritten ist?

Warum wir Alkohol als Genussmittel einstufen

Alkohol wirkt sich direkt auf unser seelisches und körper­liches Empfinden aus. Nachdem die erste, natürliche Abwehrreaktion überwunden ist, wird die folgende direkte Wirkung meist als sehr angenehm empfunden. Ein warmes Gefühl steigt von innen auf und ein abschirmender Schleier scheint sich auszubreiten. In unserer für den Alkoholgenuss offenen Gesellschaft tritt dann schnell eine Gewöhnung ein und die anfängliche Abwehr geht verloren. Der alkoholisierte Mensch ist im wahren Sinne des Wortes durch den Stoff fremdbestimmt.

Eine nicht unerhebliche Bedeutung kommt dem Alkoholkonsum auch im Steuersystem zu. Freier Zugang bedeutet viel Umsatz und damit kann man viel Geld verdienen. Eine kritische Haltung verringert den Umsatz. Daraus ergibt sich, dass die einfache und überall vorhandene Verfügbarkeit von alkoholischen Getränken auch durch die Marktwirtschaft beeinflusst wird. Neben der als angenehm erlebten Wirkung lassen sich der Markt, die Religion, die Kultur und die Menschheitsentwicklung als Gründe für unsere Einstufung des Alkohols als Genussmittel ausmachen.

Wenn das »Genussmittel« zum Gefahrenstoff wird

Die Kehrseite wird an einigen Zahlen deutlich: 9,5 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Durchschnittlich werden pro Kopf der Bevölkerung jährlich zehn Liter reiner Alkohol getrunken. Rund 1,3 Millionen Menschen gelten als alkoholabhängig. Im Jahr sterben 74.000 Menschen an den Folgen von Alkoholkonsum. Für die Allgemeinheit entstehen dadurch Kosten von 26,7 Milliarden Euro (Bericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung 2015). Bei den am meisten gefährdeten jungen Menschen liegt das durchschnittliche Einstiegsalter heute bei 13,8 Jahren (BZfA 2014). Zwei Drittel der 12- bis 15-Jährigen haben schon mal Alkohol getrunken. Ein Drittel der 16–17-Jährigen tut es einmal in der Woche (BZgA 2009). 5 Prozent der Jugendlichen trinken Alkohol in Mengen, die für Erwachsene als gesundheitsschädlich eingestuft werden (BZfA 2014). Wenn man diese Zahlen betrachtet, kann man fast nicht glauben, dass sich die Einstufung als Genussmittel in unserer Gesellschaft immer noch so hält.

Macht man sich klar, dass beinahe jeder zwölfte Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren Alkohol in Mengen zu sich nimmt, die auch für einen gesunden Erwachsenen als gefährlich einzustufen sind, kann man eigentlich eher von Gefahrenstoff sprechen. Denn es passiert in einem Alter des Auf- und Umbaus. Seele und Körper sind in einem plastischen Prozess, sie sind formbar, offen und damit auch verletzbar. Jetzt wird angelegt, was durch ein ganzes Erwachsenenleben halten soll. Die Chance der persönlichkeitsstärkenden Prägung gibt es später nie wieder in diesem Umfang. Der Alkohol in dieser Zeit verhindert Zukunft im wahrsten Sinne des Wortes, denn er kann seine zerstörende Wirkung in diesem Alter besonders stark zur Geltung bringen. Je jünger Jugendliche Alkohol trinken, desto größer ist sowohl der körperliche als auch der seelische Schaden und desto größer ist die Gefahr einer lebenslangen Abhängigkeit. Eltern, Lehrer, der Jugendliche selbst, ja die ganze Gemeinschaft stehen angesichts dieser Gegensätze vor einer großen Herausforderung. Denn ein »Kulturfaktor« wie der Alkoholkonsum lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Verbote und Verteufelungen helfen da wenig. Erforderlich ist vielmehr eine altersgemäße Prävention, denn je länger der erste Schluck hinausgeschoben wird und je weniger getrunken wird, desto besser für die heranwachsende Generation. Später hilft, wenn überhaupt, nur noch eine Therapie.

Als erstes braucht es fachliche Aufklärung, also fundiertes Wissen über die Wirkung des Alkohols, über die entstehenden Schäden, über die gesellschaftlichen Hintergründe und über die neuesten Untersuchungen und Erkenntnisse. Wenn man etwas genau weiß, lässt es sich nicht mehr so gut verdrängen und man ist nicht mehr so leicht manipulierbar.

Gesicherte Information sollte immer die Basis für eine präventive Arbeit sein. Genauso wichtig für eine erfolgsversprechende Vorbeugung ist die Selbstwahrnehmung. Jeder, der präventiv wirksam werden will, sollte bei sich selber anfangen und sich über seinen eigenen Alkoholkonsum klar werden. Auch gilt es, das allgemeine »Suchtverhalten« im täglichen Leben in den Fokus zu nehmen. Wie steht es mit Kaffee, Fernsehen, Schokolade, Handy, Internet, Arbeit? Wir alle sind auf die unterschiedlichste Art und Weise mehr oder weniger süchtig, abhängig. Junge Menschen nehmen den Erwachsenen nur das ab, was diese erkennbar selber umsetzen.

Wie bewerkstelligt man eine wirksame Prävention?

Es hat sich gezeigt, dass ein Gemisch am wirksamsten ist. Durch das verschärfte Jugendschutzgesetz fangen tatsächlich weniger junge Menschen früh an zu trinken. Angemessene und dann auch eingehaltene Regeln helfen im schulischen Zusammenhang, die Haltung gegenüber dem Alkohol präventiv zu beeinflussen. Doch nicht nur auf das Umfeld, sondern auch auf die Persönlichkeit der Schüler gilt es einzuwirken. Dabei steht die Stärkung ihrer Lebenskompetenzen im Vordergrund. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2015) sind das

• Selbstwahrnehmung und Einfühlungsvermögen

• Umgang mit Stress und negativen Emotionen

• Kommunikation, Selbstbehauptung, Standfestigkeit

• kreatives, kritisches Denken, Problemlösen

• Information

Um in diesen Bereichen wirksam zu werden, gibt es unzählige Methoden und Ansatzpunkte auch im Schulalltag. Grundlage ist jedoch, dass man in einen Austausch kommt, dass junge Menschen bereit sind, zu erzählen, was sie bewegt und dass sie dem Erwachsenen überhaupt zuhören wollen. Mit fertigen Programmen erreicht man da herzlich wenig. Besser ist es, man lässt seine Phantasie spielen und entwickelt die Vorgehensweise mit den Jugendlichen gemeinsam. Das bedeutet zwar, dass man sich nicht auf das Alte verlassen kann, es birgt aber die Chance, nicht an den Adressaten vorbeizuarbeiten. Um Mut zu machen, diesen unbekannten Weg immer wieder neu zu probieren, sei auf einen Versuch an der Kieler Waldorfschule hingewiesen: In einem Wettbewerb wurden Schüler gebeten, einen Song zu schreiben und aufzunehmen, in dem sie sich kritisch mit dem Konsum von Alkohol auseinandersetzen. Eine Jury belohnte den Sieger mit einer Prämie. Dieses ohne Einfluss von Erwachsenen entstandene Stück wird von den anderen Schülern mit Interesse angenommen und es kann sich beim gemeinsamen Anhören eine Diskussion präventiver Art ergeben. ‹›

Zum Autor: Helmut Hinrichsen ist Dozent am Lehrerseminar Kiel und an der Alanus-Hochschule. Er war 26 Jahre lang Handwerks- und Biologielehrer an der Kieler Waldorfschule und 18 Jahre Suchtpräventionslehrer. Die Kieler Waldorfschule hat 2013 den von der BzgA und der Drogenbeauftragten der Bundesregierung vergebenen ersten Preis für ihre Alkoholprävention bekommen.

Hinweis: Informationen zum Alkohol bei der BzgA, der WHO, bei der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, im Internet zum Beispiel unter www.fluter.de/de/95/thema/8995

Literatur: O. Koob: Drogensprechstunde, Stuttgart 1992 | R. Dunselmann: Anstelle des Ich, Stuttgart 2004 | F. Vogt: Sucht hat viele Gesichter, Stuttgart 2000