Das brennende Verlangen nach Liebe

Ute Hallaschka

Segantini, der Maler aus dem Engadin ist in Deutschland, anders als in der Schweiz, ein großer Unbekannter. Das wird sich ändern durch Labharts Film. Wer ihn gesehen hat, möchte auf der Stelle nach St Moritz ins Museum, um die Originale anzuschauen. Welch eine Entdeckung.

Man traut seinen Augen kaum. Ist das nicht van Goghs dynamische Malweise, Turners Lichtbehandlung? Im Lauf des Films ziehen viele vertraute Stilelemente großer Meister am inneren Auge vorüber. Was Segantinis Kompositionen so einzigartig macht, ist das  Betrachter-Gefühl: so innerlich habe ich die Welt noch nie gesehen, in ihrer Äußerlichkeit. Als wäre alles Seele. Die Motive, vor allem die Berge, Tiere, bäuerliches Leben mit der Erde erscheinen ganz gegenständlich und doch alles andere als naturalistisch. Sie sind von leuchtender Durchlässigkeit. Segantini hat den schöpferischen Blick des Betrachters mit hineingemalt – reine Farben, unvermischt aufgetragen und jeweils zwischen zwei Pinselstrichen extra einen feinen Leerraum gelassen. So kann die Farbe sich selbst im Anschauen verweben – die Bilder wirken verblüffend modern.

Aber wie ist das überhaupt möglich, in einem Film, Gemälde zu zeigen? Was Labhart hier leistet, ist brillant. Eine Neuerfindung des Sehens, was den Umgang mit Bildern angeht. Der starrende, glotzende Apparateblick, an den wir uns aktuell immer stärker gewöhnen, hat einen Kopiercharakter. Labhart zeigt mit den Mitteln des Films eine schöpferische Bewusstseins-Technik auf. Es ist nicht nur die Wirkung der hochauflösenden Spezialkamera namens Black Magic, die für das merkwürdige Erlebnis sorgt, dass man Originale sieht – was ja definitiv nicht der Fall ist. Aber die Filmbilder, Kamerafahrt und Schnitt sind so gehalten, dass sie rhythmisch den menschlichen Blick gliedern. Was wir sehen und wie wir sehen in Zeit und Raum hat eine unwillkürliche, unbewusste Gestalt. Wenn wir Kunstwerke anschauen, entwerfen wir innerlich die entsprechenden Figuren – im Wechsel von Totale und Detail, von Wiederholung, Übergleiten der Fläche, innehalten bei einer überraschenden Entdeckung. Das zeigt uns der Film in phantastischer Weise. Er erzählt von Hingabe des Schauens – wir sehen uns beim Sehen zu. Die zweite Schicht dieses außergewöhnlichen  Dokumentarfilms ist die Inspiration. Segantinis Lebenslauf wird erzählt durch die wechselnden Stimmen aus dem Off.  Bruno Ganz spricht die Originaltexte des Künstlers und die Schauspielerin Mona Petri zitiert aus der 2009 erschienenen Biographie von Asta Scheib. Wieder entsteht etwas ganz Neues und Authentisches aus diesem Textgewebe. Was Kommentar und Interpretation nicht leisten können – das Gefühl: ein Mensch spricht für sich. Segantini ist als Waisenkind, ohne jede Schulbildung in den Straßen Mailands aufgewachsen. Wie dieser kleine Kaspar Hauser der Malerei dann zu seiner Ausdruckskunst fand, ist keine rührselige Geschichte sondern ein existentielles Drama. Beinah unbegreiflich ist die Güte, die den Menschen und Künstler beseelte. »Das brennende Verlangen nach Liebe«, ein Satz aus seinen Briefen, verstand er als Seinsweise, nicht als Habe. Nach der bitteren Armut seiner Kindheit und Jugend, war Segantini ein Aussteiger und Anarchist mit wachem sozialem Gewissen. Auf der Suche nach differenzierter Lichterfahrung für die Gestaltung seiner Werke, stieg er immer höher in die Berge. Mit 41 Jahren starb er in einer Almhütte auf 2700 Meter.

Die dritte Ebene, in der dieser Film begeistert, ist die wohltemperierte Spannung zwischen Klassik und Moderne. Neben den Gemälden werden immer wieder Momentaufnahmen aus dem Heute gezeigt, Stadtlandschaften, sonderbar verfremdete Kulturräume. Ein Hochhaus mit Baukran und Starenschwarm in der Abendstimmung korrespondiert in schwarz-weiß mit den farbigen Bildern. Und dann die Musik, im Wechsel mit der Sprache. Paul Giger und das Carmina Quartett spielen Klassiker, Bach und Mozart – im Verein mit eigenen modernen Klanginstallationen. Man sieht sie in einer kleinen Bergkirche musizieren. Der Regisseur erzählt später im Publikumsgespräch, dass sie bei Minustemperaturen spielen mussten. Doch er wollte für die Aufnahmen den authentischen Raum, um das Lebensgefühl von Segantini nachschaffen, konkret spüren  zu können

Wie dem Maler Segantini scheint auch dem Regisseur Christian Labhart eine besondere Gabe eigen, die Welt innerlich erscheinen zu lassen, aus der jeweiligen Perspektive des Dargestellten. Was seine Filme einzigartig macht, ist die Gestaltungskraft, die geistige Präsenz, welche die Abstinenz des Dokumentarischen so belebt, dass dem Zuschauer die Augen aufgehen. Für ganz neue Ansichten. Die Offenheit, die sein Schaffen charakterisiert, ist keine Attitude. Er weiß noch nicht, was sein nächstes Thema sein wird. Doch er vertraut darauf, dass seine Ziele ihn finden. Wahrscheinlich könnte er die folgenden Zeilen – aus einem Brief von Giovanni Segantini – aus vollem Herzen unterschreiben.

»Ich habe die Welt gekannt und all ihre sozialen Schichten; nicht von fernher, sondern ich lebte darin und erfuhr so all ihre Leidenschaften, ihre Schmerzen, ihre Freuden und ihre Hoffnungen. Ich sah Blumen weinen und Würmer lächeln. Ja ich habe gelebt, ohne zu vegetieren, ich habe wirklich gelebt.«

Giovanni Segantini, Magie des Lichts. Ein Film von Christian Labhart, DVD, 82 Minuten, 2015, http://www.segantini-film.ch