Innere Wildnis

Ute Hallaschka

Viggo Mortensen, der allseits bekannte Held aus Herr der Ringe, spielt einen Vater, Ben, der mit seinen sechs Kindern in der Wildnis im Nordwesten Amerikas lebt. Fernab der Zivilisation bildet er sie zu Überlebenskünstlern aus. Steinzeit-Ernährung, die selbsterlegte Jagdbeute wird am Feuer verzehrt, tägliches körperliches Abhärtungstraining ist ebenso Bestandteil des Alltags wie politische Bildung, Erziehung zum bürgerlichen Ungehorsam. In vermeintlich sokratischer Praxis – im ausdrücklichen Bezug auf Plato – wird die Autonomie der Urteilskraft geübt. Die Kinder, zwischen 7 und 17 Jahren haben keine Ahnung, was in der Zivilisation da draußen, im Leben ihrer Altersgenossen vor sich geht. Sie wachsen ohne Medien, Handy, Internet auf und leben wie die reinen Toren – Parzival in den Wäldern.

Das macht den Spannungsbogen des Films aus: einerseits erlebt der Zuschauer diese Groteske von Beginn an als Katastrophe. Eine ideologische Verblendung des Vaters, der die hilflosen Schutzbefohlenen geradezu abrichtet. Auf der anderen Seite die Kinder- und Jugenddarsteller, denen es tatsächlich gelingt, die eigene Beziehung zum Vater so zu spielen, dass glaubwürdig wird, was diese Beziehung ausmacht – Humor und Liebe.

Kann das wahr sein? Ist es möglich, mit diesen beiden inspirierenden Grundkräften als Rüstzeug in der Seele als Erwachsener so gründlich zu irren und geradezu Missbrauch seelisch-geistiger Art zu betreiben? Das ist die radikale Frage und jeder, der je ein Kind erzogen hat, wird sie mit »Ja« beantworten müssen. Das ist es, was die Kinder den Erwachsenen beibringen. In der existenziellen Angewiesenheit dieses Verhältnisses erscheint eine Ansicht der inneren Wildnis. Noch in den verborgensten Winkel im Gemüt fällt Licht auf Gelände, wo Kultivierung und Reifung der Selbsterziehung nötig sind.

Dieses Anliegen vermittelt der Film nicht sehr subtil, sondern grell überzeichnet. Es gibt Voraussehbares in der Handlung, viele Klischees in den Bildern und auch brutale Szenen. Gleich zu Beginn tötet der älteste Sohn ein Tier in einem Initiationsritus und schlägt die Zähne in die rohe Leber. Mit solcher Überzeichnung arbeitet der Regisseur und Drehbuchautor Matt Ross durchgehend. In der Presseerklärung zum Film, bezieht er sich ausdrücklich auf die eigene Biographie. »Meine Mutter interessierte sich für alternative Lebensentwürfe. Als ich jung war, lebten wir in Kommunen in Nordkalifornien und Oregon. Wir hausten mitten im Nirgendwo, ohne Fernsehen und ohne die meisten modernen Technologien. Ich wünschte, ich wäre mutig und selbstlos genug, um meine Karriere für meine Kinder aufzugeben. Ben hat die normale Welt mit all ihren Ambitionen aufgegeben, um sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, der beste Vater für seine Kinder zu sein. Es stellt sich die Frage: ist er wirklich der Beste oder schlicht des Wahnsinns?«

Man kann die filmische Machart kritisieren und sich eine feinsinnigere Dramaturgie vorstellen. Andererseits ginge der Film vielleicht so gerade selbst in die Ideologie-Falle der Botschaft. In der Entscheidung zu Lakonie und Groteske bleibt dem Zuschauer der pädagogisch korrekte Zeigefinger erspart. Das scheint konsequent kathartisch. So müssen wir selbst entscheiden: sollen wir nun Mitleid fühlen mit diesem armen irren Erzieher oder ihn kategorisch verurteilen?

Es zeigt sich im Lauf der Handlung, wovon das Leben in der Wildnis eigentlich inspiriert war. Es war ein Versuch, die kranke Mutter der Kinder, die an Psychosen litt, zu retten. Auf ihren Wunsch hin zog sich die Familie in die Natur zurück. Mit ihrem Selbstmord und der anschließenden Beerdigung setzt das turbulente Road Movie ein, mit der die sieben Wildlinge in die Zivilisation zurückkehren. Am Ende sitzt ein ergebener Vater am Küchentisch. Rasiert und halbwegs gezähmt, ein melancholischer Farmer, schaut er auf seine lesenden Kinder. Die erledigen schnell noch die Hauaufgaben, während sie auf den Schulbus warten.

Aber da ist es – das verschmitzte Lächeln, das kleine Funkeln in den Augenwinkeln, das wir von Aragorn kennen, dem Königssohn. Das ist die letzte Einstellung. Die Freude darüber, dass es die Kinder sind, die uns läutern und zum Souverän der eigenen Kräfte machen; durch die Übung der Hingabe, der selbstlosen Liebe, die zur Selbsterkenntnis wird. Auch wenn sie gelegentlich wie Gollum erscheinen, die kleinen Hobbits, und aller Einsatz der Erwachsenen wie vergebliche Mühe. Sie sind es wert. Als Boten unserer Freiheit, die immer in der Selbstüberwindung liegt.

Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück. Regie: Matt Ross. USA 2016