Flüchtlinge ganz nah. Ein Projekt der Waldorfschule Potsdam

Sibylla Hesse

Kriegsgräuel, havarierte Schiffe im Mittelmeer voller Flüchtlinge, menschenunwürdige Unterkünfte: Täglich beobachten wir durch die Medien das Leid der Flüchtlinge, sehen, was Menschen ihren Mitmenschen antun.

Passivität oder gar angewidertes Abwenden kann nicht die Reaktion einer Schule auf diese Ereignisse sein. So bot die Waldorfschule Potsdam im jahrgangsübergreifenden Projektunterricht über acht Wochen das Wahlthema »Grenzen überwinden – Flüchtlinge und wir« an. 25 Schülerinnen und Schüler der Oberstufe übten zunächst, einen Mitschüler eines anderen Jahrganges zu interviewen. Im ersten Ernstfall lauschten wir einer Migrantin aus Afrika, die als Dolmetscherin bei Behörden grundlegende Informationen geben konnte. Anschließend befragten wir einen jungen syrischen Architekten auf Englisch. So bereiteten wir uns auf unsere selbstständigen Interviews in Kleingruppen vor. Ein behutsamer Umgang mit dem Gegenüber musste geübt werden bis dahin, dass man als Gastgeber Tee serviert. Der zu Beginn genannte Wunsch, Asylbewerberheime »besichtigen« zu wollen, wich der Sensibilität für die Schutzbedürftigkeit der teilweise Traumatisierten. Umgekehrt lernten unsere neuen Mitbürger junge, offene Deutsche kennen.

Hilfe aus allen Richtungen ab Michaeli

Für die ganze Schule präsent wurde das Thema durch die Michaeli-Rede eines Projekt-Teilnehmers: Jonathan wollte die Zuhörenden motivieren, sich persönlich für Flüchtlinge einzusetzen. Dazu sei etwas Mut nötig, aber weniger, als letztere für ihre Flucht gebraucht hätten, führte der Elftklässler in freier Rede aus. Seine Darstellung ging vielen Anwesenden zu Herzen. Als unser wöchentlicher »Schulbote« von dem Flüchtlings-Projekt berichtete, machten Eltern Angebote, die von Kinderkleidung über Spielzeug bis hin zu kostenlosem Ponyreiten reichten. Eine Mutter, selbst aus der DDR geflüchtet und vertraut mit der Erfahrung, kaum Kontakt zur aufnehmenden Gesellschaft zu finden, organisierte mit uns ein festliches Abendessen für »unsere« Flüchtlinge. In einer benachbarten Waldorfschule hatten zwei Mädchen »Weihnachten im Schuhkarton« initiiert und baten uns um Mithilfe. Wir füllten gemeinsam Weihnachtspäckchen, die wir in ein Heim mit vielen Kindern brachten: konkretes soziales Engagement im Kleinen.

Vorsicht, Retraumatisierung!

Wir fanden mit Hilfe der Stadtverwaltung »geeignete« Asylbewerber, die in einer von uns beherrschten Sprache gerne mit uns über ihre persönliche Geschichte sprechen mochten. Geeignet meint hier, dass sie durch das Erzählen ihres Lebens nicht retraumatisiert werden, und dass sie sich eventueller indiskreter Fragen zu erwehren wissen. Die Schülerteams arbeiteten meist autonom. Manche Frage – etwa nach der Angst vor Fassbomben – kommt aus naivem Herzen, trifft aber auf eine entsetzliche Erfahrung. Bombenhagel, kaputte Häuser – was wir täglich in der Welt sehen, erlebten Gott sei Dank nur die Ältesten unter uns. Der Zweite Weltkrieg – so fern, scheinbar – bis aufgrund einer Fliegerbombenentschärfung Potsdams Hauptbahnhof für Stunden gesperrt war und die beiden Zehntklässlerinnen nicht zum Interview ins evakuierte Heim fahren konnten. Wie dies auf die Flüchtlinge wohl wirkt?

Projektunterricht als Allzweckinstrument

Großer Vorteil des Projektunterrichts ist, dass man gar nicht bemerkt, was und wie viel man lernt. Die Lernenden recherchierten die Länderkunde nicht als Schulstoff, sondern weil sie ihren Interview-Partnern treffendere Fragen stellen wollten. Im auf Französisch geführten Interview mit einem Kameruner, dessen Deutsch-Anfängerkurs soeben begann, war es für zwei der drei Jugendlichen der erste außerunterrichtliche Gebrauch dieser Fremdsprache … Als er von rassistischen Beleidigungen durch ältere Potsdamer erzählte, zeigten ihre betrübten Gesichter Anteilnahme, auch ohne Gebrauch des subjonctif.

Für die beiden betreuenden Lehrkräfte, die zwischen Klassen- und Computerraum, Schulfoyer und Asylbewerberheim hin- und hereilten, hieß es Vertrauen haben in die Selbstorganisation. Kleingruppen klassen- und geschlechterübergreifend zusammenzusetzen, reduziert Chill-Phasen erfahrungsgemäß. Und wenn die Welt in die Schule kommt, wenn es um die Realität geht, wachsen Interesse und Verantwortung. Wie wird der Flüchtling auf meine Fragen reagieren? Bin ich geistesgegenwärtig genug zu bemerken, wenn ich falsch verstanden wurde? Was, wenn mir Fehler unterlaufen? Halte ich die Erzählungen aus von der lebensbedrohlichen Flucht übers Meer (Syrer) oder vom Kennenlernen des Ehemanns erst in der Hochzeitsnacht (Afghanin)?

Verknüpfung mit künstlerischen Zugängen

Unter der Überschrift »Begegnung« wählten alle Oberstufenschüler zusätzlich ein Kunst-Projekt, etwa »Begegnung – der Ton macht das Gespräch« (Plastizieren) oder Malerei und Zeichnen. Beim »Kreativen Schreiben« stand das Reisen im Fokus. In »Begegnung – am interaktiven Kunstwerk« ging es um das Programmieren von Microcontrollern, die mit technischen Sensoren auf den Betrachtenden vor dem Bilderrahmen reagieren. Eine Gruppe von Zehnt- bis Zwölftklässlern realisierte »Spieglein an der Wand«: Wenn man zu seinem Spiegelbild im Rahmen spricht, ertönen Zahlen aus der Flüchtlingsstatistik, die die Schüler aufgenommen und einem Mikrochip eingespeichert haben. Die entstandenen Kunstwerke hingen dann einen Monat lang im Flur des Oberbürgermeisters. Auf der Vernissage eurythmisierten wir das Gedicht »In der Flucht« von Nelly Sachs und der Oberstufenchor sang einen afrikanischen Kanon.

Schule ohne Rassismus

Die Waldorfschule Potsdam ist schon lange keine rein christlich-biodeutsch-weiße Schule mehr, der Umgang mit Atheisten, Muslimen, Mitschülern mit Migrationshintergrund wurde selbstverständlich. Doch oft wissen wir wenig über ihre Herkunft, Religion oder persönliche Geschichte; ihre Erfahrungen immer wieder zu thematisieren bringt Vertrautheit und baut Ängsten wie der von Rechtsradikalen geschürten Überfremdungsfurcht vor.

Wir sind seit 2008 »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage«, also Teil eines Schulnetzwerks von über 1.500 deutschen Schulen (darunter acht Waldorfschulen), die sich gegen Diskriminierung, Mobbing und Gewalt wenden. Zu dieser nützlichen Arbeit nach innen muss sich eine positive, aktiv nach außen gerichtete gesellen, die gesellschaftliche Probleme zu verstehen sucht, um dann eine lokale Antwort zu finden, die im Alltag umgesetzt werden kann.

Tabea ändert ihre Meinung

»Ich habe nichts gegen sie, wenn sie herkommen, aber etwas mit ihnen zu tun haben? Nein, muss nicht sein! – Das war mein Statement zu Flüchtlingen vor dem Projekt. Dann änderte sich meine Ansicht um 180 Grad.«

Tabeas Rückblick zeigt ein zentrales Phänomen: Wenn man nie mit Flüchtlingen gesprochen und ihre Geschichten nicht kennen gelernt hat, liegt Gleichgültigkeit nahe. Doch: »Es fing schon beim ersten Interview mit einer Afrikanerin an. Nicht nur ihre freundliche Art, sondern auch ihre Aufgeschlossenheit und Offenheit, uns alles zu erzählen, was wir wissen wollten, machte mich stutzig. So etwas war ich von Menschen, die ich erst wenige Minuten kannte, nicht gewohnt.« Die Zehntklässlerin schildert hier eine Erfahrung mit einem anderen Menschen, die sie über sich selber nachdenken lässt.

Freiheit als Lebensziel

Eine weitere Gesprächspartnerin war Rechtsanwältin: »Die Syrerin war so intelligent und faszinierend, wie ich es selten erlebte. Sie hat sich ›Freiheit‹ als Lebensziel gesetzt, für sich, für die Frauen und für Syrien.« In der dichten Begegnung des Interviews leuchten die biographischen Zielsetzungen dieser Erwachsenen auf, die für ihre Ideale viel riskiert hat. Sie entkam drei Attentatsversuchen von Salafisten, bevor sie ihre Heimat verließ. Die Wirkung auf die Jugendlichen ist kaum zu überschätzen. In der Kleingruppe wurden diese Interviews anschließend schriftlich aufbereitet und in einem Leseheft gebündelt, zusammen mit informierenden Artikeln, zum Beispiel über aktuelle Flüchtlingszahlen, Menschenrechte, Fremdenfeindlichkeit, Amnesty International oder den Dokumentarfilm »Land in Sicht«.

»Ich schaue in die Welt«: vom Leben gelernt

Im Rückblick reflektiert Saskia ihren Perspektivenwechsel: »Ich konnte mir durch das, was die Flüchtlinge und Migranten erzählten, ein ganz anderes Weltbild schaffen, weil ich erst da wirklich mitbekommen habe, wie gut es uns im Gegensatz zu anderen Ländern geht.«

»Ob Mann, Frau oder Kind, egal welcher Nationalität mit egal welcher Kultur – wenn man etwas schaffen möchte, dann braucht man kein Glück, nur Willen und Mut!«, fasst Tabea ihre Erfahrungen zusammen.

Zur Autorin: Sibylla Hesse unterrichtet Geschichte und Kunstgeschichte an der Waldorfschule Potsdam. Sie findet Projektunterricht eine geniale Erfindung.