Beobachtungsbögen aus Kindergärten fernhalten

Peter Buck

Robert Neumann hat meines Erachtens die zentrale Botschaft von Werner Kuhfuss Plädoyer gegen Beobachtungsbögen im Kindergarten nicht vernommen. Und da für mich das, was Kuhfuss vorbringt, nicht nur ein ganz entscheidender und beherzigenswerter Gesichtspunkt in der Kindergarten- und Grundschulerziehung ist, sondern geradezu ein Kernproblem, will ich versuchen, mit meinen Worten darzustellen, warum es so dringlich ist, diese Art der Beobachtung (nämlich mit Beobachtungsbögen) aus dem Kindergarten bewusst fernzuhalten.

Ich gehe davon aus, dass Neumann Beobachtungsbögen für den Kindergarten kennt und weiß, aus welchem Geist heraus sie entwickelt worden sind. Dass er weiß, dass bei der Anwendung dieser Instrumente eine ganz bestimmte innere Ausrichtung und Haltung verlangt wird, sollen sie professionell gehandhabt werden, nämlich nach der Devise: »Registriere nur und misch’ dich nicht ein!« Es ist dieser Imperativ mit den Fragebögen verbunden, wenn sie den Zweck erfüllen sollen, für den sie konzipiert sind: zu klassifizieren und zu diagnostizieren.

Natürlich kann der Bogen seinen Anwender »zu einer genauen Beobachtung anregen, ähnlich der Situation, dass eine erfahrene Erzieherin neben mir steht«, wie Neumann schreibt; er erfüllt dann eine andere – heuristische – Funktion. Aber die Beobachtung als Übung des Gewahrwerdens, die ja durchaus zu begrüßen wäre, würde nur dann erzieherisch wirksam, wenn die beobachtende Person in unmittelbarem Zusammenhang mit dem beobachteten Tun den Kontakt mit dem Kind aufnähme, sich von der Beobachtungsposition abwendete und zu einer kommunizierenden Person würde, die sich dem ihr anvertrauten Kind zuwendet.

Den »liebenden Blick« nennt Kuhfuss diesen unabtrennbaren zweiten Teil einer heuristisch oder auch pädagogisch motivierten Beobachtung. Die diagnostische und bloß registrierend motivierte Beobachtung dagegen, die mit dem sachgerechten Einsatz der Beobachtungs­bögen verbunden ist, kennt diesen liebenden Blick naturgemäß nicht, denn er ist ja auf Objektivität ausgerichtet. Er verlässt damit die Ich-Du-Sphäre und wechselt in die Sphäre der dritten Person, die die Sphäre der Objekte ist.

Kuhfuss möchte aber gerade dies mit Nachdruck vermeiden. »Solange wir über das Kind denken, sind wir getrennt von ihm und werden ihm nicht gerecht werden können«, sagt Kuhfuss in seinem bemerkenswerten Buch »Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes?« In diesem Sinne muss man seinen Satz »Das Gegenteil der Beobachtung ist Wahrnehmung« lesen. Ich würde ihn wegen der unscharfen Wortbedeutung von »Wahrnehmung« so formulieren: »Das Gegenteil der registrierenden, objektivierenden Beobachtung ist das Gewahrwerden des einmaligen Kindes mir gegenüber.« Alles Schematische, das den Beobachtungsbögen ja als Prinzip innewohnt, ist beim Gewahrwerden des Einmaligen hinderlich!

Letztlich ist es aber eine Haltungsfrage und eine Frage der inneren Überzeugung: Sehe ich die mir anvertrauten Kinder als variante Ausprägungen einer Spezies »Mensch« an, die ich bei genauer naturwissenschaftlicher Beobachtung einordnen und ggf. auch erzieherisch therapieren kann? Oder will ich, wenn ich mit Kindern zu tun habe, ihre Wirklichkeit berücksichtigen, indem ich konsequent ernst nehme, dass sie »im geistigen Bereich« sind, dass dabei ein »Parallelogramm der Willenskräfte« (Kinderwille, Erzieherwille) wirksam ist und von mir als Erzieher »Zeugenschaft« verlangt wird?

Ich bin überzeugt davon, dass die Wirkungen der einen oder der anderen Beobachtungsart unterschiedlich sein werden.

Literatur: Werner Kuhfuss: Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes?, Dürnau 2006