Bildung und Persönlichkeit

Axel Ziemke

»Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen;
so wie Gott sie uns gab, so muss man sie haben und lieben,
sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren.
Denn der eine hat die, die anderen [haben] andere Gaben.«

Soweit Goethe. Doch formen wir Kinder nicht auch dadurch, dass wir sie erziehen – in welchem Sinne auch immer?

Interessante Denkanstöße zur Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der Persönlichkeitsbildung liefert der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth in seinem Buch »Bildung braucht Persönlichkeit«. Sein Persönlichkeitsmodell unterscheidet vier Ebenen, für die er jeweils verschiedene Abschnitte des Gehirns verantwortlich macht: Die im Hirnstamm, Hypothalamus und Teilen des limbischen Systems verankerte vegetativ-affektive Ebene ist für die grundlegenden Körperfunktionen und elementaren Verhaltensweisen wie Wachen und Schlafen, Flucht und Aggression, Ernährung und Sexualität zuständig. Weitere Teile des limbischen Systems verkörpern die Ebene grundlegender emotionaler Konditionierungen sowie motivationaler Prozesse.

Diesen beiden unbewusst arbeitenden Ebenen steht die individuell-soziale Ebene gegenüber, die unsere bewussten, zumeist sozial vermittelten Emotionen realisiert und unsere Aufmerksamkeit steuert. Sie ist unter anderem in der rechten Großhirnrinde und den oberhalb unserer Augen befindlichen Teilen der Großhirnrinde angesiedelt. Die kognitiv-sprachliche Ebene ist vor allem in Teilen der linken Großhirnrinde verankert.

Alle vier Ebenen unserer Persönlichkeit arbeiten zwar normalerweise eng zusammen, haben aber auch eine gewisse Selbstständigkeit. So ist es für unser Verhalten sehr wichtig, dass wir auf der kognitiv-sprachliche Ebene unabhängig von der individuell-sozialen die Begleitumstände und Konsequenzen unseres Handelns »überdenken« können, ohne allzu sehr von dem beeinflusst zu sein, was uns gerade wünschenswert erscheint. Die Wertmaßstäbe der individuell-sozialen Ebene kommen hingegen dann ins Spiel, wenn es darum geht, zwischen den verschiedenen Handlungsalternativen zu entscheiden, die auf der kognitiv-sprachlichen Ebene erarbeitet wurden.

Die Grenzen des pädagogischen Einflusses

Interessant für pädagogische Fragen ist die Entwicklung dieser vier Ebenen. Die affektiv-vegetative Ebene bildet sich bereits in den ersten Schwangerschaftswochen aus. Schon hier entscheidet sich beispielsweise das Temperament des Kindes, das tief in den grundlegenden Empfindungen und Verhaltensweisen dieser Ebene begründet ist.

Die emotional-motivationale Ebene entwickelt sich in der späten Schwangerschaft und den ersten Wochen nach der Geburt. Hier wird die Empathiefähigkeit des Kindes angelegt. In dieser Entwicklungsphase können sich, insbesondere durch die frühen Bindungserfahrungen des Kindes, Persönlichkeiten entwickeln, die im späteren Leben völlig unbeeindruckt von negativen Konsequenzen ihres Verhaltens, lediglich durch den zu erwartenden Lustgewinn motivierbar und so ausgesprochen suchtgefährdet sind – umgekehrt aber auch Menschen, die vorwiegend durch ihre Ängste vor negativen Folgen ihres Handelns getrieben werden.

Als letztes vollendet sich die Reifung der individuell-sozialen Ebene unserer Persönlichkeit im Alter von 16 bis 20 Jahren, wenn junge Menschen im Anschluss an die Pubertät ihre Individualität im Rahmen immer differenzierterer sozialer Bezüge ausprägen. Dem gegenüber entwickelt sich die kognitiv-sprachliche Ebene im Zeitraum zwischen Geburt und Pubertät in mehreren Entwicklungsschüben, die in der Entwicklungspsychologie seit langem gut erforscht sind.

Von der affektiv-emotionalen Ebene der Persönlichkeit eines Kindes kann man also ganz in Goethes Sinn sagen, dass wir sie »haben und lieben« müssen, »wie Gott sie uns gab«. Und sicher gilt dies auch noch zu einem großen Teil von der emotional-motivationalen Ebene. Doch schon hier stellt sich die Aufgabe verantwortlicher Erziehung, auch wenn uns kein Neurobiologe sagen kann, was genau damit gemeint sein könnte.

Für die Bildung der individuell-sozialen und kognitiv-kommunikativen Ebene letztendlich ist es entscheidend, wie es uns im Steinerschen Sinne gelingt, als »Lehrer und Erzieher die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes« zu sein. Sicher gilt auch hier: »Der eine hat die, die anderen [haben] andere Gaben«. Was sich auf diesen Ebenen entwickeln will, findet seine Grundlagen, aber auch seine Grenzen in dem, was sich in den Jahren zuvor geformt hat. So wird die Entwicklung der individuell-sozialen Ebene allenfalls »überformen« können, was in Schwangerschaft und früher Kindheit angelegt wurde.

Einem mit der Waldorfpädagogik vertrauten Menschen kommt hier sicher einiges bekannt vor. Man findet hier zwar nicht die Begriffe, vielleicht aber ein Stück weit die innere Logik der aufeinander aufbauenden und ineinander verwobenen Wesensglieder der Steinerschen Entwicklungspsychologie wieder. Und wie Steiners Lehre macht uns auch Roths Ansatz deutlich, wie wichtig eine Pädagogik des Vorschulalters für die spätere Entwicklung des Kindes ist.

Literatur:

Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Stuttgart 2011