Die Klassenlehrerzeit an Waldorfschulen aus Sicht von Schülern. Ergebnisse aus Hessen

Dirk Randoll

Diese Frage haben sich auch Schüler des Landesschülerrates in Hessen gestellt. Sie haben sich 2011 mit der Bitte an die Alanus Hochschule, Fachbereich Bildungswissenschaft, gewandt, um gemeinsam eine Studie über die Klassenlehrerzeit an Waldorfschulen durchzuführen. Der zum Einsatz gekommene »Fragebogen zum Erleben der Klassenlehrerzeit an Waldorfschulen« (siehe unter www.alanus.edu) wurde gemeinsam mit ihnen entwickelt. Etwa jeder dritte der in dieser Studie befragte Schüler ist Quereinsteiger, hat also die Waldorfschule nicht von der ersten Klasse an besucht, sondern Erfahrungen in einer anderen Schulform – vermutlich zumeist in einer Regelschule – gemacht. Die meisten Neuzugänge kamen in den Klassen 3, 4 und 5.

Bei knapp 40 Prozent hat im Laufe der achtjährigen Klassenlehrerzeit der Lehrer gewechselt, mehr als die Hälfte behielten ihren Klassenlehrer hingegen über die gesamte Zeit. Zudem geben über 80 Prozent an, dass ihre Klassenlehrerzeit bis zum Ende der achten, bei knapp über sieben Prozent bis Ende der siebten Klasse dauerte – und zwar unabhängig davon, ob der Klassenlehrers gewechselt hat. Bei mehr als vier Prozent endete die Klassenlehrerzeit bereits nach Klasse 6. 57 Prozent der befragten Schüler geben an, dass sie die Dauer der achtjährigen Klassenlehrerzeit in der Retrospektive für angemessen hielten, 37 Prozent erlebten sie als zu lang. Diejenigen, die die achtjährige Klassenlehrerzeit in vollem Umfang durchlaufen haben, hielten sie in ihrer Dauer zu 63 Prozent auch für angemessen.

Positive Aussagen zum achtjährigen Klassenlehrerprinzip

Die Urteile der Befürworter (247 Schüler) und Kritiker (160 Schüler) der achtjährigen Klassenlehrerzeit weichen in Bezug auf die Fragen zum Lehrer-Schüler-Verhältnis deutlich voneinander ab. Konkret schätzen die Befürworter des achtjährigen Klassenlehrerprinzips die individuelle Förderung, die Offenheit des Lehrers gegenüber Kritik der Schüler, den Umgang der Pädagogen mit den Sorgen und Nöten der Heranwachsenden wesentlich positiver ein als diejenigen, die die Klassenlehrerzeit als zu lang empfunden haben. Ob das Prinzip der achtjährigen Klassenlehrerzeit akzeptiert wird, scheint daher von dem konkreten Lehrerverhalten, der wahrgenommenen Unterstützung durch den Lehrer, von seiner Persönlichkeit, aber auch von Aspekten wie Sympathie und Antipathie abhängig zu sein.

Zunächst ist festzuhalten, dass die achtjährige Klassenlehrerzeit bei den befragten Waldorfschülern auf mehr Zustimmung als Ablehnung stößt. Voraussetzungen für eine in der Retrospektive als positiv erlebte Klassenlehrerzeit sind eine gute, vor allem durch ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen gekennzeichnete Lehrer-Schüler-Beziehung, eine Lehrerpersönlichkeit, die offen und flexibel mit den Wünschen und Bedürfnissen der Schüler umgeht, sowie ein methodisch und inhaltlich interessanter Unterricht. Die Klassengemeinschaft ist den Schülern aber auch über die achte Jahrgangsstufe hinaus wichtig. Denn sie verspricht Verlässlichkeit, gibt Vertrauen und vermittelt so etwas wie Heimat und sie ermöglicht die Fortsetzung gelebter und gewachsener Freundschaften unter den Schülern.

Was lässt sich besser machen?

Bei differenzierter Betrachtung der Ergebnisse zeigen die Antworten der Schüler jedoch einige Relativierungen, die die achtjährige Klassenlehrerzeit in ihrer traditionellen Form infrage stellen. Die Schüler geben zu verstehen, von ihrem Klassenlehrer auch noch in der achten Jahrgangsstufe zu sehr »beschützt« oder »behütet« worden zu sein. In ihrer Entwicklung hin zu mehr Selbstständigkeit, etwa beim Lernen, fühlten sie sich nicht hinreichend gefördert und gefordert.

Die fachliche Förderung und leistungsmäßige Forderung der Schüler durch den Klassenlehrer ist spätestens ab der achten Jahrgangstufe unzureichend – zumindest aus der Perspektive der Schüler. Zudem ist der Übergang in die Oberstufe ungenügend vorbereitet, weshalb er für die Schüler sehr schwierig ist: Ab Klasse 9 fühlen sie sich oft überfordert und orientierungslos.

Auch wird die fachliche Qualifikation des Klassenlehrers von den Schülern infrage gestellt – aber zum Teil auch damit entschuldigt, dass kein Pädagoge in allen Fach- und Wissensgebieten umfassend kompetent und informiert sein könne. Es ist deshalb auch nachvollziehbar, dass sich mehr als zwei Drittel der Befragten gewünscht hätten, in der achten Klasse häufiger von Fachlehrern unterrichtet zu werden. Nach Aussagen der Schüler wird – auch noch in der achten Jahrgangsstufe – allzu häufig lehrerorientiert oder lehrerdominiert unterrichtet, während Gelegenheiten für Gruppenarbeit oder Formen des selbstständigen und selbstverantwortlichen Lernens und Arbeitens eher selten vorkommen. In diesem Kontext ist auch verständlich, wenn die Schüler den Unterricht ihres Klassenlehrers in der achten Jahrgangsstufe in der Rückschau nicht als aktuell empfinden. Bei der Diskussion der achtjährigen Klassenlehrerzeit an Waldorfschulen müssen, unabhängig von den Ergebnissen dieser Befragung, auch die damit einhergehenden physischen, psychischen und zeitlichen Belastungen und Beanspruchungen der Pädagogen berücksichtigt werden.

Aufgrund dieser Anforderungen fühlt sich die Gruppe der Klassenlehrer im Vergleich zu allen anderen Waldorfpädagogen mit am stärksten belastet. Dass es sich ungünstig auf den Lernerfolg von Schülern auswirken kann, wenn sich Lehrer überbeansprucht fühlen, ist durch eine aktuelle Studie von U. Klusmann und D. Richter empirisch bekräftigt worden.

Zum Autor: Dirk Randoll ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter.

Hinweis: Ausführliche Studienbeschreibung auf www.rose.journ.com

Literatur: H. Eller: Der Klassenlehrer an der Waldorfschule, Stuttgart 2007; M. Harslem, D. Randoll: Selbstverantwortliches Lernen an Freien Waldorfschulen, Frankfurt 2013; U. Klusmann, D. Richter: Beanspruchungserleben von Lehrkräften und Schülerleistung, Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 60, Heft 2; Klassenlehrer, Zeitschrift Erziehungskunst, Heft 1/2014