Die »Sozialgestalt der Waldorfschule« – Außenansicht einer Baustelle

Hanspeter Rosenlechner

Die erste Waldorfschule hatte bekanntlich keinen Direktor im Sinne eines Beamten der Schulbürokratie, wohl aber einen offiziellen Leiter: Rudolf Steiner. Die seit jeher propagierte »kollegiale Führung« war also ursprünglich eine klar begrenzte, und zwar innerhalb des Handlungsspielraums, den der Schulleiter, Rudolf Steiner, definierte. – Welche der grundlegenden Prozesse an der Waldorfschule lagen in seiner Hand, und welche in der des Kollegiums?

Man kann – wie bei jeder anderen Organisation auch – an einer Waldorfschule Kernprozesse, Managementprozesse und Unterstützungsprozesse unterscheiden.

• Die Kernprozesse sind die pädagogischen, denen Steiner in den pädagogischen Kursen und Konferenzen die Richtung gab.

• Die Managementprozesse umfassen fünf Aufgaben: Planung, Organisation, Personaleinsatz, Führung und Kontrolle. Der gesamte Managementprozess stellt nach Schreyögg/Koch (2007) einen Kreislauf dar (Grafik in der gedruckten Ausgabe):

Untersucht man die Mitschriften der Lehrerkonferenzen, wird deutlich, dass Steiner das Ruder für alle fünf Managementprozesse fest in der Hand hielt. Er hatte die »Soll-Ordnung« von Anfang an festgelegt und geplant, ebenso die Organisation und den Personaleinsatz (Husemann/Tautz 1979). Er führte das Kollegium und kontrollierte auch die Umsetzung des Projekts Waldorfschule. Obgleich er die pädagogische Freiheit der Lehrer als einen zentralen Wert ansah und behandelte, befasste er sich in seiner Rolle als Schulleiter nötigenfalls auch mit der Qualitätsentwicklung und -kontrolle. Führung und Management lagen also eindeutig in der Hand Rudolf Steiners.

• Die Unterstützungsprozesse ermöglichen und unterstützen den Kernprozess (an einer Waldorfschule die Pädagogik). Zu ihnen zählen die Bereitstellung von personellen und sachlichen Ressourcen, die Bereitstellung und Pflege der Infrastruktur, die (Weiter-)Entwicklung der Produkte / Dienstleistungen und das Controlling – dies alles lag weitgehend in der Hand Steiners. Für Ressourcen und Infrastruktur wie die Schulgebäude sorgten vor allem Emil Molt sowie der Vorstand und ein »Verwalter« (Karl Stockmeyer). Das laufende Tagesgeschäft wurde in den Konferenzen koordiniert.

Rudolf Steiner war also der »Herr im Prozesshaus«. Nur innerhalb der Kernprozesse – im Unterricht – waren die Lehrer bedingt frei – innerhalb der Grenzen, die Steiner festlegte.

Im Herbst 1924 erkrankte Steiner und konnte bis zu seinem Tod am 30. März 1925 die Schule nicht mehr besuchen. Am 15. März 1925 schrieb er den bekannten Brief an das Lehrerkollegium:

»Meine lieben Lehrkräfte der Freien Waldorfschule!

Es ist mir eine große Entbehrung, so lange nicht unter Euch sein zu können.

Und ich muss jetzt wichtige Entscheidungen, an denen ich naturgemäß seit dem Bestande der Schule teilgenommen habe, in Eure Hand legen. Es ist eine Zeit der Prüfung durch das Schicksal. Ich bin mit meinen Gedanken unter Euch. Mehr kann ich jetzt nicht, wenn ich nicht riskieren will, die Zeit der physischen Hinderung ins Endlose auszudehnen.

Gedankenwirksamkeit eine uns,
Da wir im Raum getrennt sein müssen. –
Was wir schon gemeinsam vollbracht,
Es krafte jetzt durch die Lehrerschaft.
Es ziehe seine Kreise durch ihren Eigenrat,
Da jener Rat, der so gerne käme,
Die Schwingen frei nicht hat.
So wollen wir denn die Gemeinsamkeit im Geiste um so inniger erstreben,
so lange anderes nicht sein kann.«

Damit waren nach Steiners Tod die wichtigsten Führungsfunktionen in der Waldorfschule vakant und nicht geregelt: Die Schulleitung, das Management und wichtige Unterstützungsprozesse.

Vielfach wird die Ansicht geäußert, im zitierten Spruch habe Steiner seine Aufgaben an das Kollegium delegiert (»in Eure Hand legen«). Davon kann nicht die Rede sein, denn er ist nur ein Appell, dass das zwischen Steiner und den Lehrern Begonnene durch »Gedankenwirksamkeit« und »Gemeinsamkeit im Geiste« weiterwirke. Tatsächlich war nichts konkret delegiert worden. Das Kollegium war 1925 schlicht gezwungen, sämtliche Aufgaben Steiners ad hoc zu übernehmen; genauer gesagt: den Teil seiner Aufgaben, den man erkennen konnte, und von diesem Ausschnitt das, wozu jene Menschen in der Lage waren. Doch Steiners Verantwortungsbereiche wurden nach seinem Tod vom Kollegium übernommen, ohne die bestehende Führungsstruktur zu verändern.

So ist nachvollziehbar, wie das mentale Modell entstand; Selbstverwaltung bedeute, dass die Lehrer möglichst das gesamte Management übernehmen. Diese Überzeugung scheint mir sachlich nicht haltbar: Die Frage nach der »Sozialgestalt« der Waldorfschule ist für mich heute so offen wie im März 1925.

Es soll hier nicht die Sinnhaftigkeit und der Wert des Selbstverwaltungsentwurfs in Abrede gestellt werden. Die »Sozialgestalt der Waldorfschule« beruht auf dem richtigen und notwendigen Gesichtspunkt, dass das Schulmanagement von Insidern gehandhabt werden muss, damit es optimal auf die Pädagogik abgestimmt ist. Doch beruht sie auf einer nie grundlegend in Frage gestellten Notlösung nach Rudolf Steiners Tod, auf einer Not, aus der eine Tugend gemacht wurde. Dass Steiner Schulleiter war und das Management innehatte, wird weithin ausgeblendet. Die spirituelle Führung wurde nur ihm zugestanden. Führung – insbesondere Führung von Menschen – wird tabuisiert (freies Geistesleben).

Selbstverwaltung durch Lehrer ist sinnvoll; sie darf jedoch nicht auf Kosten der Managementprozesse gehen: Mission (Grundwerte und -anschauungen, Zielsetzungen, Zukunftsvision), Organisation (Umsetzungsstrategien), Personaleinsatz, Führung und Kontrolle. Diese Führungsaufgaben kann man sich auch heute an einer Waldorfschule bewusst machen und sie zielorientiert-professionell delegieren.

Wie eine Waldorfschule ihre Strukturen und Abläufe auch gestaltet: Man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, dass auch Nicht-Planung höchst wirksam ist, ebenso wie Nicht-Organisation und Nicht-Führung. So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann man auch nicht nicht erziehen oder nicht nicht führen: Man hat es dann nicht mit Abwesenheit von Erziehung / Führung zu tun, sondern mit unpädagogischer Erziehung oder dysfunktionaler Organisation.

Man kann dafür sorgen, dass an einer Schule jemand für das Management verantwortlich ist und es mit der nötigen Kompetenz und Professionalität – und mit Partizipation des Kollegiums – vollverantwortlich führen darf. Oder eben nicht. Es ist die Wahl zwischen einer Zukunft, der man irgendwie entgegentreibt, und einer, deren Schöpfer man ist.

Zum Autor: Hanspeter Rosenlechner arbeitete als Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg und war dort zuletzt u.a. für Organisationsentwicklung verantwortlich bevor er dem Aufruf Hölderlins folgte: »Komm! ins Offene, Freund!«

Der vorliegende Aufsatz ist ein gekürzter und adaptierter Teil einer in Arbeit befindlichen Master-Thesis an der Donau-Universität Krems zum Thema Organisationsentwicklung an Waldorfschulen.

Literatur:

G. Schreyögg/ J. Koch: Grundlagen des Managements, Wiesbaden 2007 | G. Husemann/ J. Tautz: Der Lehrerkreis um Rudolf Steiner in der ersten Waldorfschule, Stuttgart 1979 | R. Steiner: Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft – Der Wiederaufbau des Goetheanum 1924-1925, Dornach 1987

Die Illustrationen finden Sie in der gedruckten Ausgabe.