Digital atemlos

Heide Mende-Kurz

Klinken wir uns ein in die digitale Welt, so ist die erste Wahrnehmung nahezu unheimlich: rasende Schnelligkeit, eine Überfülle an Daten und Informationen. Ist die entsprechende Antriebsenergie vorhanden, ist das Handy, das Smartphone, der Computer onmipräsent – ohne Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Einatmen und Ausatmen. Es ist beeindruckend praktisch, sofort sprechen und hören, sofort Texte tippen, sofort Fotos schießen zu können, um alle möglichen Lebensbefindlichkeiten mitzuteilen. Bis zur Entdeckung und Nutzung der Elektrizität dienten der menschliche Atem, die Wasserkraft, die Windkraft, die Feuerkraft (Dampfmaschine) und die Tierkraft noch als Energiegeber. Seit der Erfindung der ersten digitalen Prozesse durch Konrad Zuse im Jahr 1936 findet eine Beschleunigung der technischen Abläufe in der Zeit, wie eine Vervielfältigung  von Text- und Bild-Informationen im Räumlichen statt. Der Nutzer kann Unmengen von Musik hören, Unmengen von Bildern anschauen, kann Unmengen schwierige Gedankenoperationen nachvollziehen.

Aber wo bleibt der Atemrhythmus? Wo bleibt der Wach- und Schlaf-Rhythmus? Wo bleibt der Morgen-Mittag- Abend-Rhythmus? Wo bleibt die Gegenwartswahrnehmung des Menschen im Hier und Jetzt? Fühlt er seine Beine, mit denen er auf dem Boden steht, nimmt er die Wärme oder Kälte seines Leibes wahr? Reagiert er mit seinen Sinnen, den Augen, Ohren, der Nase und seinem sprechenden Mund auf seine Umgebung?

Im Hier und Jetzt zu leben geht ohne das Ein- und Ausatmen nicht. Es entstehen Krankheiten auf der physischen, der seelischen und geistigen Ebene. Die lebenzerstörende, untersinnliche, das heißt, nicht sinnlich wahrnehmbare Kraft der digitalen Techniken verschlägt uns den Atem. Hetze und Hektik sind atemlos.

Der Mensch kann nicht schneller sprechen, als er atmen kann, zumal er nur bei der Ausatmung spricht. Beobachten wir, wie viele Menschen atemlos, abgehackt, ohne jede Sprechmuskulatur, Schnellinformation heraushauen, Wortfetzen atemlos herausgebellt.

In der »Allgemeinen Menschenkunde« sagte Steiner, dass die Erziehung darin bestünde, das Kind »richtig atmen zu lehren«. Die Waldorflehrer sollten also atmende Vorbilder sein.