Inklusion – eine Zwangsveranstaltung?

Stefan Oertel

Exemplarisch ist zum Beispiel die Behauptung, mit der Inklusion »wären wir hundert Jahre nach Gründung der ersten Waldorfschule wieder da, wo wir schon mal waren. An der Uhlandshöhe besuchten ursprünglich die Förderschüler genauso wie die anderen die Schule und wurden teilweise von Karl Schubert gesondert unterrichtet. Spezielle heilpädagogische Waldorfschulen entstanden erst nach dem Zweiten Weltkrieg.«

Warum hat Steiner auf dem Lauenstein, wo die anthroposophische Heilpädagogik begründet wurde, nicht sofort für Inklusion gesorgt? Und wieviel hatte die damalige Praxis an der Uhlands­höhe wirklich mit dem zu tun, was heute programmatisches Ziel der Inklusionsbefürworter ist? Wie berechtigt ist es, irgendwelche historischen Begebenheiten aus den Geschichtsbüchern der Bewegung herauszusammeln und einfach im Sinne dessen zu deuten, was heute »Inklusion« heißt? Und wo finde ich die »Inklusion« im »Heilpädagogischen Kurs« Steiners?

In all den Jahren meines Studiums war von »Integration« vielleicht drei, vier Mal die Rede. An den Begriff »Inklusion« kann ich mich gar nicht erinnern. Ich wage zu behaupten, dass beide Begriffe zur damaligen Zeit keine wesentlichen Begriffe für das Gros der Bewegung der anthroposophischen Heilpädagogik und der Waldorfpädagogik waren. Zwei Jahre später kam die UN-Konvention. Und nach kurzer Zeit wird in unseren Kreisen behauptet: bei entsprechender Besinnung auf die Ursprünge der Waldorfpädagogik könne sich sowieso nichts anderes als Inklusion ergeben. Mir scheint, dass eine wirklich ergebnisoffene Diskussion der Inklusionsidee gar nicht mehr statt findet. Es geht nur noch darum, wie man diese Idee umsetzt. Sie selbst braucht aber, so scheint mir, gar nicht mehr hinterfragt zu werden. Und doch gibt es grundsätzliche Vorbehalte vor allem bei den praktisch arbeitenden Pädagogen. Sie werden aber nur wenig öffentlich ausgesprochen, vielleicht weil man fürchtet, als Mensch von gestern dazustehen. Ihre nicht ernsthaft gewürdigten Vorbehalte äußern sich in der Widerstandsform der Trägheit. Freilich, auch die Anhänger der Inklusion propagieren nicht alle die vollständige Abschaffung der gesonderten Einrichtungen. Aber die Inklusionsidee, die doch so wohlklingend und suggestiv daherkommt, muss auch einmal grundsätzlich in Frage gestellt werden, wenn man zu dem vordringen will, was ohne Zweifel als berechtigtes, menschliches Interesse hinter ihr steht.

Ein Teilaspekt des Problems ist dabei die zu starke Betonung des Rechtsaspektes. Es hat sich vielerorts insbesondere das »Recht auf Inklusion« im Bewusstsein festgesetzt. Wer nicht inkludiert, verstößt gegen ein »Menschenrecht«. Für Recht und Gesetz aber sorgt der Staat. Die Inklusion wird dadurch in letzter Instanz Sache des Staates. Meiner Meinung nach wäre es lediglich Aufgabe des Staates, der Inklusion keine Steine in den Weg zu legen. Der Rest ist den Menschen zu überlassen. Und ob jene Inklusion wollen oder nicht, muss sich aus deren lebendigem Geistesleben – dem Diskurs, der Begegnung, der individuellen Initiative – ergeben. Es ist nicht möglich, jene inneren Haltungen, die Voraussetzung gelingender Inklusion sein könnten – Offenheit, Interesse, Toleranz, Rücksichtnahme – per Dekret von oben einzufordern. Man kann Geisteshaltungen nicht auf dem Umweg über den Rechtsstaat herbeiführen. Inklusion muss eine freie Tat sein. Wer inklusive Schulen will, muss die Leute begeistern, anstatt sie wegen eines »Menschenrechtsverstoßes« zu ermahnen! Und er muss sich auch damit abfinden können, wenn sie sich nicht begeistern lassen. Ich wünsche mir weniger Propagandaveranstaltungen und -artikel zum Thema »Inklusion« als mehr kontroverse und profilierte Debatten.

Zum Autor: Stefan Oertel ist Klassenlehrer der 2. Klasse der Hans Müller-Wiedemann Schule, einer Heilpädagogischen Schule in Mannheim.