Kinder brauchen eine Erziehung ohne Zwang

Thomas Jachmann

In der neuen Schule fühlt sich Kai viel wohler. Trotz einiger besorgter Einwände von Kollegen: »Das Kind können wir hier nicht unterrichten, es gehört in die Sonderschule«, hat sein Klassenlehrer ihn aufgenommen.

Er weiß, dass es Kai auch in dieser Schule nicht leicht haben wird und dass er sich durch diese Aufnahme nicht nur die Verantwortung für ein besonderes Kind, sondern auch so manches Problem mit den Kollegen aufgeladen hat. Dieser Klassenlehrerkollege ist sich aber ganz sicher: Wenn man Kai ohne Zwang und Strafen erzieht, ihn schätzt und seine besonderen individuellen Fähigkeiten lieben lernt, und wenn man ihn mit Geduld und Verständnis begleitet, dann wird die Schule bei Kais Erziehung Kai helfen können.

Auf Zwang folgt Trotz

Kai reagiert auf jede Form von Zwang – und sei er noch so fürsorglich oder wohlwollend gemeint –, oder auf Strafen mit Angst und Zorn, seelischer Blockade und Verkrampfung bis hin zur völligen Verweigerung desjenigen, was ihm aufgezwungen werden soll.

Bei unbefangener Betrachtung ist er gar kein so besonderes Kind. Er zeigt nur deutlich die typischen Reaktionsmuster der heutigen »anderen« Kinder. Einer erzieherischen Haltung, die letztlich auf Folgsamkeit und Unterordnung anstatt auf Beziehung und Verständnis beruht, begegnet er mit Blockaden. »Gute Gewohnheiten«, wie still und gerade zu stehen oder zu sitzen, auf ein gemeinsames Kommando zu reagieren, unbedingt und widerspruchslos zu gehorchen, nimmt er nur sehr zögernd an. Seine unbedingte Gegenwehr aber provoziert man, wenn man ihm in Lieblosigkeit oder nicht in voller Anerkennung begegnet. Aus Angst vor Autoritätsverlust werden viele Erzieher und Lehrer innerlich starr und versteifen sich – auf ihrem Durchsetzungsanspruch – das ist besonders häufig in Konflikt- oder Grenzsituationen zu beobachten.

Diese Pädagogen wollen gewöhnlich in bester Absicht bei den Schülern »gute Gewohnheiten«, in Bezug auf den Unterrichtsverlauf, die Gesprächskultur oder die Hausaufgaben ausbilden. Solche Führungsansprüche setzen jedoch nach alter Tradition eine unbewusste hierarchische Struktur fort.

Welche Führungsqualitäten zeitgemäß sind

Führungsmerkmale der oben beschriebenen Kategorie gehören zu den schlechten Gewohnheiten eines Lehrers. Sie müssen durch neue, zeitgemäße Qualitäten abgelöst werden. Dazu gehören unbedingte Vorurteilslosigkeit, liebevolles Verständnis für die Schüler, Kreativität, innere Beweglichkeit und Geistesgegenwart, Einfühlungsvermögen und nicht zuletzt eine sachgemäße und fundierte menschenkundliche Schulung.

Es ist nicht leicht, diese Qualitäten im pädagogischen Alltag umzusetzen. Denn die Versuchung ist groß, immer wieder auf die alten, erprobten, wenn auch nur noch notdürftig funktionierenden Führungsqualitäten zurückzugreifen. Aber bei solchen Schülern wie Kai – und es gibt heute sehr viele Kais –, funktionieren diese Gewohnheiten und die aus ihnen entsprungenen Unterrichtsmethoden nicht mehr. Bei anderen scheinen sie noch zu klappen, aber nur mit den unvermeidlichen, angsterzeugenden Nebenwirkungen. Die Ausbildung und Anwendung dieser Führungsqualitäten impliziert eine Haltung, die nicht von der unbedingten Wertschätzung und Anerkennung, sondern letztendlich von Unterwerfung und Anpassung der Schüler ausgeht. Gerade dann zeigt diese Haltung in ihrer Anwendung eine besondere Schärfe, wenn sie eingesetzt wird, um einen ritualisierten Unterrichtsablauf durchzusetzen.

Ritualisierter Unterricht

Wie viele Kinder gibt es heute noch, die aus eigenem Antrieb eine Minute lang mit über der Brust gekreuzten Händen unbeweglich und still stehen wollen, um dann in dieser Haltung einen langen und komplizierten Spruch zu sprechen, der mit anschließender Begrüßungszeremonie abgeschlossen wird. Dieser ritualisierte Beginn eines Unterrichtstages stellt aber nur den Anfang einer Reihe von Ritualen ähnlicher Art dar, die dem Unterrichtsablauf in den Augen der Lehrer die pädagogisch so wertvolle Prägung geben sollen.

Hier noch einige weitere Beispiele für ritualisierte schulische Abläufe, denen ein Zweitklässler begegnet:

Am Schuleingang soll der Schüler am Morgen dem Begrüßungslehrer die Hand geben und ihm dabei in die Augen schauen. Wenn er zur Klassentür kommt, steht dort sein Klassenlehrer und fordert ihn auf, ihn mit der rechten Hand (nicht mit der falschen linken Hand) zu begrüßen. Dabei wird in die Augen des Lehrers geblickt und höflich (wenn möglich auch freudig) gegenseitig »Guten Morgen« gesagt. Kurz danach zum Unterrichts­beginn wird wiederum aufgestanden und es werden in würdiger Ruhe im Chor Kinder und Lehrer begrüßt. Am Ende der Stunde stehen die Schüler wiederum eine kleine Weile in möglichst absoluter Ruhe gerade und still, in vielen Fällen die Hände über der Brust gekreuzt, und verabschieden nach einem sinnvollen Spruch den Lehrer. Danach sollten sie nach ritualisierter Ordnung ihre Schultaschen ablegen, die Hausschuhe versorgen, ihre Straßenschuhe mitnehmen und dann geordnet die Klasse verlassen.

Kai hat an diesem Tag nach der großen Pause Musikunterricht. Am Ende der Pause soll er sich, in Zweierreihe seinen Mitschüler an der Hand fassend, leise durch die verschiedenen Flure in seine Klasse begeben. Zu Beginn des Musikunterrichtes wird erst einmal eine kleine Weile stillgestanden oder gesessen, dann folgt der obligatorische Begrüßungsritus. Am Ende des Musikunterrichtes folgt wiederum eine Schweigeminute und der Verabschiedungsritus.

Nun gibt es Handarbeit. Zum Beginn der Stunde wird wieder eine Zeit lang still gestanden, dann kommt der Begrüßungsritus und ein gemeinsam gesprochener Spruch zur Einstimmung. Nach getaner Handarbeit wird am Ende der Stunde wieder stillgestanden, dann folgen Spruch und Abschied. Kai hat an diesem Tag seine Lehrer fünf Mal in verschiedenen Formen begrüßt, stillgestanden und mit Spruch verabschiedet.

Solche Schüler gibt es nicht mehr

Kai und viele andere Kinder können das alles nicht mehr! Nirgendwo in ihrer Umgebung haben die meisten von ihnen Ähnliches gesehen, erlebt oder geübt. Diese Formen und Riten sind in unserer Gesellschaft nur noch innerhalb religiöser Gemeinschaften zu finden. Sie sind fast gänzlich ausgestorben und haben längst jeglichen Boden in unserer Kultur verloren. Um solche ritualisierten Unterrichtsabläufe mit innerer Anteilnahme, einem gewissen Verständnis und aus freiem Willen mitmachen zu können, dazu gehört eine im weitesten Sinne religiöse Erziehung, die aber heute kaum noch anzutreffen ist.

Kais neuer Klassenlehrer unterrichtet seine Klasse meist bis 12 Uhr und bietet seinen Schülern verschiedene pädagogische Freiräume an. Jeden Morgen gibt es eine ausführliche Spielzeit, es gibt eine Spielecke für notwendige Auszeiten und vieles mehr. Am Waldtag einmal in der Woche dürfen die Schüler zu jeder Jahreszeit im Wald und auf den Wiesen bauen und spielen. Der wichtigste Freiraum ist jedoch die Haltung des Lehrers, seine zugewandte Geduld und nicht zuletzt seine Lebenslust und sein Humor.

Alte Zöpfe gehören abgeschnitten

Dass die Kinder, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, gesagt bekommen wollen, wo es lang geht, dass sie geführt werden wollen, diese Ansicht bedeutet einen pädagogischen Freibrief, traditionelle, ja auch unsinnige Führungsqualitäten in der Klasse anzuwenden. Der Lehrer geht dabei davon aus, dass er genau weiß, wer sein Schüler ist, was gut für ihn ist und dass der Schüler im Zweifelsfalle immer das Schlechteste für sich wählt. Deshalb muss der Lehrer sich gegenüber dem Schüler in jedem Fall und zu seinem Heil und Besten mit seinen Ansprüchen und Anforderungen durchsetzen. Der Führungsanspruch des Lehrers wird dabei mit einem Belohnungs- und Maßregelsystem durchgesetzt. Belohnung und Strafe beginnen schon in der ersten Klasse mit einem ausgeklügelten System von an die Tafel gemalten bunten Sternchen bis zu dem immer noch gängigen »Vor die Türe setzen« und – last but not least – dem Weiterweisen des schwierigen Schülers an eine andere Schule.

Selbsterziehung statt Erziehung

Die Menschenkunde als Mittelpunkt und Grundlage der Waldorfpädagogik lädt jeden Pädagogen dazu ein, seine »Selbstführungsqualitäten« zu entwickeln auf seinem Weg zur Selbsterziehung. Der Satz: Kinder möchten gesagt bekommen, wo es lang geht, stellt eine bequeme Verfälschung der menschenkundlichen Tatsache dar, dass Kinder in Liebe einer von ihnen anerkannten Persönlichkeit nachstreben wollen, einer Persönlichkeit, die durch ihre Kraft zur Selbsterziehung zu einer Autorität geworden ist.

Diese Nachfolge kann aber nicht durch Zwang oder Strafe erreicht werden, auch wenn sie noch so verschleiert oder in bester Absicht angewendet werden.

Zum Autor: Thomas Jachmann, Jahrgang 1951, Staatsexamen in Biologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Köln, während des Studiums ab 1974 aushilfsweise Unterricht als Fach- und Klassenlehrer an der Christian-Morgenstern-Schule in Wuppertal und in Essen. Ausbildung zum Klassenlehrer im Abendkurs in Herne. Seit 1980 Klassenlehrer. Ab 1981 auch Unterricht als Lehrer für den freien christlichen Religionsunterricht.