Licht unterm Scheffel – Es ist Zeit für einen eigenen Waldorfschulabschluss

Frank de Vries

Einer Waldorfschule, die nicht zum Abitur führt, ist sogar ihre gesamte 12. Klasse abhanden gekommen – eine dramatische Entwicklung! Frank de Vries unterrichtet in der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule Bochum und ist Projektleiter des Abschlussportfolioprojektes der Waldorfschulen in Nordrhein-Westfalen.

Bei den Abschlüssen erwachsen den Waldorfschulen gleich mehrere Probleme. Die eigene pädagogische Zielsetzung kollidiert mit den formalen Anforderungen für staatliche Prüfungen und mit dem Berechtigungswesen. Die Waldorfschulen haben sich auf die Vergabe der staatlichen Abschlüsse konzentriert und versäumt, einen eigenen Abschluss zu entwickeln. Offensichtlich ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die Waldorfschule zwölf Schuljahre umfasst.

Die Schulen haben lange Zeit wesentliche Inhalte der Oberstufenpädagogik nicht angemessen evaluiert und auch nicht im Abschlusszeugnis dokumentiert. Für die Praktika erhielten die Schüler meist nur eine Teilnahmebescheinigung, andere Projekt­arbeiten wurden vielfach gar nicht ins Abschlusszeugnis aufgenommen. Die Schulen erlebten immer mehr, dass vor allem die handwerklich-künstlerischen Fächer in der Oberstufe gekürzt und die waldorfspezifischen Praktika und Projektarbeiten in Frage gestellt wurden. Was für die Schüler nicht abschlussrelevant war, drohte zu verschwinden. Daher stellte sich die dringende Frage, ob die Waldorfschulen bei den Abschlüssen fremdbestimmt bleiben oder ob sie es schaffen, durch einen eigenen Abschluss waldorfspezifische Unterrichtsinhalte durchzusetzen und anerkennen zu lassen.

Der Arbeitskreis »Zukunft der Abschlüsse«

Zu diesem Ziel wurde vor einigen Jahren vom Bund der Freien Waldorfschulen ein Arbeitskreis zur »Zukunft der Abschlüsse« (AKZdA) ins Leben gerufen. Er sollte prüfen, ob in Zukunft neben den staatlichen Abschlüssen ein eigener Waldorfabschluss auf der Grundlage von Kompetenzbeschreibungen etabliert werden könnte. Die Waldorfschulen haben deshalb einen eigenen Kompetenzlehrplan geschaffen, der vor einem Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (Wenzel M. Götte/Peter Loebell/Klaus-Michael Maurer: Entwicklungsaufgaben und Kompetenzen, Zum Bildungsplan der Waldorfschule, Stuttgart 2009). Maßgeblich für den Lernerfolg, darin ist sich die wissenschaftliche pädagogische Diskussion einig, ist der Kompetenzerwerb, nicht so sehr die Bewältigung von Lernstoff.

Die Kompetenzen der Waldorfschulen

Nun verfügen die Waldorfschulen im Hinblick auf den Kompetenzerwerb mit ihren Praktika, Projektarbeiten und dem handwerklich-künstlerischen Unterricht über ein pädagogisches Potenzial, das seinesgleichen sucht. Vor allem die sozialen und persönlichen Kompetenzen sind für die Ausbildungs- und Studierfähigkeit sowie das spätere Leben entscheidend. Das waldorfspezifische Lernangebot zeigt seine überragende Bedeutung gerade in einem Kompetenzprofil, das sich in seiner besonderen Qualität und Vielfalt im Vergleich zu den staatlichen Abschlüssen gut dokumentieren lässt.

Die Waldorfschule könnte hier einen Erfahrungsvorsprung geltend machen: Der Waldorflehrplan war schon immer »kompetenzorientiert«, ohne dass dieser Modebegriff verwendet wurde. Allerdings wurde der Kompetenzerwerb immer nur behauptet und theoretisch begründet, aber nicht empirisch nachgewiesen. Kann der Nachweis geführt werden, dass die Waldorfschule durch ihren staatlich genehmigten Lehrplan einen vergleichbaren Kompetenzerwerb wie die Regelschule anbietet, dann bestünde kein Grund, den Waldorfschulen äquivalente Abschlüsse zu verweigern.

Das Abschlussportfolio

Ein 2005 ins Leben gerufenes Forschungsprojekt zur Entwicklung neuer Bewertungs- und Prüfungsformen sollte einen neuen Waldorfabschluss in Form eines Kompetenzportfolios entwickeln. Jetzt liegt der Abschlussbericht zu diesem Projekt vor: Kompetenzen sichtbar machen – zum Einsatz von Kompetenzportfolios in Waldorfschulen (Michael Brater/Dieter Haselbach/Antonia Stefer, Frankfurt a.M. 2010). Er bejaht die Fragen, ob sich auch mit Kompetenzportfolios Lernergebnisse (Schulabschluss) dokumentieren lassen und ob sie Abschlusszeugnisse konventioneller Art ersetzen oder substanziell ergänzen können.

Allerdings macht der Bericht auch auf Probleme bei der Portfolioarbeit aufmerksam. »Offenbar ist die Einführung der Arbeit mit Kompetenzportfolios in der Schule aufwändiger, schwieriger und komplexer, als ursprünglich angenommen, und sie dauert deutlich länger … dieser Portfolioansatz verlangt erhebliche Vorarbeiten, wesentliche Veränderungen im bisherigen Schulablauf und tief greifendes Umdenken bei Lehrern wie Schülern: Es handelt sich nicht einfach um ein neues Element im Schulbetrieb, sondern durchaus um so etwas wie eine Systeminnovation (…).«

Damit wird auch eine Schwäche des Projekts deutlich: Es hat den Kompetenznachweis mit der Portfoliomethode verknüpft. Der Kompetenznachweis ist aber keine exklusive Eigenschaft der Portfoliomethode, auch wenn ihre Vertreter vielfach den Anschein erwecken. Die Portfoliomethode ist nur eine von vielen Methoden, Kompetenzen sichtbar zu machen. Jede Projektarbeit oder jeder schülerorientierte Unterricht ist dazu ebenso geeignet. Die Portfoliomethode hat lange Zeit den Blick auf die Entwicklung anderer Verfahren zur Feststellung von Kompetenzen verstellt.

Neue Wege

Seit 2008 haben die Waldorfschulen in Nordrhein-West­falen (NRW) in einem weiteren Schulprojekt für ihr Abschlussportfolio ein eigenes Verfahren zur Feststellung von Kompetenzen entwickelt. Seit November 2009 umfasst dieses Nachfolgeprojekt sechzehn Projektschulen, die am Ende des Schuljahres (2010) an über vierhundert Schüler ein Abschlussportfolio (APF) vergeben haben. Das Abschlussportfolio der Waldorfschulen in NRW ist auf eine breite Dokumentation der Kompetenzen und waldorfspezifischen Unterrichtsinhalte hin angelegt und wird erst am Ende der 12. Klasse vergeben. In diesem Abschlussportfolio wurde für den Kompetenznachweis ein offenes Verfahren entwickelt, das aus drei Teilen besteht:

  • dem Anforderungsprofil der jeweiligen Projektarbeit,
  • einer Selbstreflexion des Schülers über seine Lernprozesse,
  • einem Kommentar des Lehrers und anderer Projektbegleiter zum Lernverhalten, zu den Leistungen und den sichtbar gewordenen Kompetenzen des Schülers.

Die Schülerselbstreflexion steht im Mittelpunkt des Kompetenznachweises. Um den eigenen Kompetenzerwerb zu erkennen und den Lernprozess bewusst zu steuern, benötigen die Schüler die Reflexion. Am besten kann der Schüler selbst beurteilen, was er an einer Aufgabe tatsächlich gelernt hat. Bei der Selbstreflexion geht es nicht um eine »Lernzielkontrolle«, sondern darum, Lernprozesse abzubilden. Schüler wollen in der Oberstufe verstehen, warum sie etwas lernen.

Die Schülerselbstreflexion wurde auch in dem wissenschaftlichen Begleitprojekt von Brater, Haselbach und Stefer näher untersucht: »Als erstes fiel uns auf, wie wenig Schüler es gewohnt sind, über ihren Lernprozess nachzudenken. Sie scheinen die Verantwortung dafür vollkommen an die Institution Schule bzw. an ihre Lehrer abgegeben zu haben ... Was in der Unterstufe noch angemessen sein mag – Lernen zu tun, aber nicht zu reflektieren – wird offenbar unbesehen bis in die Oberstufe verlängert …«

Der Lernprozess verläuft meist unbewusst. Das Erkennen der eigenen Lernprozesse ist für die Schüler harte Arbeit. Sie benötigen Begriffe, durch die sie ihre vielfältigen Kompetenzen beschreiben können. Von Tätigkeiten auf Kompetenzen zu schließen, ist für die Lehrer ebenso ungewohnt und schwierig wie für Schüler. Nicht alle Schüler unterziehen sich dieser Arbeit gerne – nicht zuletzt deshalb, weil sie das Ergebnis aufschreiben sollen. Deshalb ist es wichtig, »sprachschwachen« Schülern bei der Selbstreflexion zu helfen

Ausblick

Im nächsten Schuljahr werden weitere Waldorfschulen dem NRW-Projekt beitreten. Auf Informationsveranstaltungen vor Ort, durch regionale und überregionale Fortbildungs­veranstaltungen (Workshops) und durch die regelmäßig stattfindenden Konferenzen der Waldorfabschlussbeauftragten werden die Kollegen fortgebildet und die neuen Schulen eingewiesen. Mentoren begleiten die Arbeit am Abschlussportfolio vor Ort und arbeiten auf Landesebene zusammen. In einem Internetportal (www.apf-nrw.de) stehen Arbeitsmaterialien und weitere Informationen zur Verfügung.

Eine völlig neue Aufgabe hat sich dadurch ergeben, dass große Firmen eine digitale Bewerbung über das Internet erwarten. Neben dem Abschlussportfolio haben wir deshalb ein Internetportal für Waldorfabsolventen eingerichtet (www.waldorfabsolventen.de).