Pädagogik groß gedacht: Montessori und Steiner im Vergleich

Heiner Barz

Während Montessori-Eltern zur Erstellung der Arbeitsmaterialien für das Klassenzimmer herangezogen werden, basteln Waldorfeltern für den Weihnachtsbasar oder legen bei Neu- und Umbau der Schulgebäude und auf dem Schulgelände Hand an.

Es gibt aber auch Unterschiede: Steht die Montessori-Pädagogik eher in der Gefahr, das anregende Material zu sehr in den Mittelpunkt zu stellen und von daher die Rolle des Lehrers als Vorbild- und Orientierungsfigur zu unterschätzen, so tut sich umgekehrt die Waldorfpädagogik mit allen Formen der Gruppenarbeit schwer. Wichtigste Gemeinsamkeit ist sicher die zentrale Stellung des Kindes, dessen genaues Studium, dessen optimale Entfaltung, dessen Individualität Steiner wieMontessori immer wieder gegen alle gesellschaftlichen, kirchlichen oder wirtschaftlichen Imperative und Trends verteidigen. »Das Kind ist der Baumeister des Menschen«, heißt es bei Montessori programmatisch und bei Steiner verbürgt die Reinkarnationslehre, dass der Einzelne als eine sich selbst gemäß den mit gebrachten Karmagesetzen entfaltende Seelenwesenheit aufgefasst wird. Schon dieWahl der Eltern ist ja für Anthroposophen eine willentliche Entscheidung der Seele im vorgeburtlichen Zustand. Und ohne große Schwierigkeiten kann man bei Montessori einen »Kindheitsmythos« als Verbindung von Vergöttlichung des Kindes bis hin zur Beschreibung des kindlichen Leidensweges durch falsche Erziehungsmethoden nachweisen. Während man der Praxis der Waldorfpädagogik gerne einen übertriebenen Antiintellektualismus nachsagt und Nachlässigkeiten in der Vermittlung naturwissenschaftlicher Fachkenntnisse, in den Rechtschreibregeln oder im Fremdsprachenunterricht diagnostiziert, liegt der Fall bei Montessori eher umgekehrt: Zugunsten einer intensiven Förderung und Weckung intellektueller Fähigkeiten kommt das Musische,die Förderung künstlerischer Phantasie häufig zu kurz.

Steiner hat seinen Pädagogen gewaltige Verantwortung für die Zukunft der Menschheit zugemutet. Die neue Schule sollte nicht nur Werkzeug der Gesellschaftsveränderung sein, sondern bei der Verwirklichung des göttlich-geistigen Weltenplans mithelfen. Seine Erziehungslehre stammt aus übersinnlicher Erkenntnis. Auch Montessori denkt nicht eben bescheiden von ihrer Pädagogik: »Meine Erziehungsmethode ist keine Methode, sondern eine Art Offenbarung.«

Freundschaftliche Beziehungen und auch inhaltliche Übereinstimmungen zwischen Montessori und der theosophischen Gesellschaft sind hinsichtlich ihrer tatsächlichen Bedeutung immer wieder zum Gegenstand von Streitigkeiten geworden. Fest steht, daß Maria Montessori von 1939–46 im Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft im indischen Adyar (Madras) lebte und lehrte. Auch lassen sich inhaltliche Entsprechungen zwischen theosophischen Überzeugungen und Schriften v.a. der älteren Maria Montessori aufweisen, für die eine überkonfessionelle Spiritualität eine immer größere Rolle spielte. Auch wenn sich keine Belege finden lassen, die die Ansicht eindeutig begründen könnten, Montessori teile die theosophische Lehre von der Wiedergeburt, und auch wenn Montessori selbst sich zeitlebens als Katholikin bekannt hat, zeigt etwa ihre Auffassung von der »Göttlichkeit« der kindlichen Natur deutliche Parallelen zu Steiners Anthroposophie. Spricht Steiner von der vierfachen Funktion des Erziehers als Künstler, Gärtner, Arzt und Priester so finden sich auch bei Montessori ähnlich emphatische Äußerungen hinsichtlich der Erziehung als einer »religiösen Pflicht«, über den Erzieher als »Priester der Natur«. Die Montessoripädagogik steht von jeher der katholischen Kirche nahe. Eher überraschend ist die klammheimliche Affinität der Anthroposophie zum Protestantismus. Man denke z.B. an die protestantische Arbeitsethik, die in Steiners Bewegung offenbar eine überraschende Reinkarnation erfahren hat. Die oft bis zur Selbstüberforderung gehende Aufopferung vieler Waldorfpädagogen im Dienst an der Sache erinnert in ihrer Psychodynamik an den calvinistischen Grundsatz, dass sich imselbstlosen beruflichen Streben die wahre Demut zeige. Die gewaltigen Erkenntnisansprüche, die in der Waldorfpädagogik gepflegt werden, bringen u.a. die Gefahr mit sich, Wissende und Unwissende,Mitstreiter und Widersacher voneinander abzugrenzen. Auch gegenüber der zu erziehenden Kinderseele, als deren Anwalt sich der Erzieher bis zur Geburt des Ich-Leibes im 21. Lebensjahr versteht, kann das zu pädagogischen Übergriffen führen. Die Unterscheidung von Maria Montessori zwischen der Peripherie des personalen Eigenraumes und dessen Zentrum, das niemals Gegenstand gezielter Einflussnahme werden dürfe, scheint mir hier ein Freiheitsmoment zu verankern, das in Steiners Pädagogik gelegentlich bedroht ist. »Lass deinem Kind sein Geheimnis«, diesem Slogan der Montessori-Bewegung könnte man aus Waldorfsicht die Aufforderung entgegenstellen: »Mühe dich täglich, das Wesen der dir anvertrauten Seele zu enträtseln.«

Dass auch Montessori indessen nicht gerade klein über die Möglichkeiten der von ihr begründeten Pädagogik dachte, wird spätestens dort deutlich, wo sie ihr die Wirkung zusprach »mit einem Zauberschlag den normalen Wesenszügen zum Durchbruch« zu verhelfen: »Dann erscheint das wahre Kind: vor Freude strahlend in unermüdlicher Tätigkeit begriffen. … Eifrig nimmt es alles in sich auf, was der Entwicklung seines Denkens förderlich ist. Hingegen weist es andere Dinge zurück: Belohnung, Süßigkeiten, Spielsachen.« Dass unsere Erwartungen an die Wirkungen unserer pädagogischen Bemühungen heute deutlich bescheidener geworden sind, muss man nicht unbedingt als Verlust beklagen.

Zum Autor: Prof. Heiner Barz ist Bildungsforscher an der Universität Düsseldorf
Link zur Publikation: http://www.hhu.de/waldorfabsolventen
Literatur: Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, Weinheim-München 1989; Rita Kramer: »Maria Montessori. Leben und Werk einer großen Frau«, München 1977; Paul Oswald: »Montessori-
bzw. Waldorfpädagogik?« In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 61. Jg, 1985a