Praktizierter Darwinismus. Anmerkungen zum Fußball

Reinhold Fäth

Später erkannte ich im Fußball den mittels der altbewährten panem et circenses-Methode flach gehaltenen Geist, wonach »die Tore auf dem Fußballfeld die Eigentore der Beherrschten sind« [1]. Noch später wunderte ich mich, dass Fußball nicht allein Thema in Sport- und Bild-Zeitungen blieb, sondern auch in der Wochenschrift Die Zeit wortgewandt »ästhetisiert« und »nobilitiert« werden konnte. Damals war ich froh, dass in der Waldorfschule meines Sohnes Fußball nicht im Turnunterricht gespielt wurde, und seine Bayern-München-Fan-Phase sich auf die 5. bis 6. Klasse beschränkte. Ich wunderte mich über die Logik von Verlautbarungen in der Zeitschrift »Erziehungskunst«, wo festgestellt wurde: Steiner hätte laut Gesamtausgabe-Recherche »nichts« über Fußball gesagt (nur drei Zitat-Stellen in 350 Bänden) und alle Negativ-Urteile über das Fußballspiel gingen »in Wahrheit« auf Gerüchte beziehungsweise einen Waldorflehrer zurück, der in den fünfziger Jahren eine obskure Schrift verfasst habe.[2] Die Autoren hatten durchaus Erhellendes zu sagen und blieben gegenüber dem Phänomen Fußball nicht unkritisch, konstatierten jedoch, dass Steiner Fußballspielen an Waldorfschulen nicht verboten habe. Der Autor Michael Birnthaler meinte, indem er Rudolf Steiner zitierte: Statt eines Fußballverbotes soll der Begründer dieser Bewegung sogar Gegenteiliges im Sinn gehabt haben. »Er [dieser Sport, M.B.] hat nur einen Wert, weil er eben eine beliebte Mode ist, und man soll durchaus das Kind nicht zum Weltfremdling machen und es von allen Moden ausschließen.«[3]

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass dieses Zitat Rudolf Steiners belegt, was der Autor damit nahelegen möchte, vielmehr zeigt es, wie die Problematik der beliebten Sportmode, der die Kinder mehr denn je ausgesetzt sind, von Steiner schon damals berücksichtigt wurde und er entsprechende Entscheidungen dem pädagogisch-situativen Handeln der Lehrer überließ. Hätte Steiner Gründe gehabt, um Fußball an Waldorfschulen zu verbieten? Heute kann niemand mit Sicherheit behaupten, er habe seinerzeit kein Fußballverbot ausgesprochen. Die Verbotsgeschichte an Waldorfschulen ließe eher vermuten, dass er an der Stuttgarter Waldorfschule, vielleicht angesichts Fußball kickender Jungs, damaligen Lehrern deutlich zu verstehen gegeben haben könnte, dass Fußball an Waldorfschulen nichts zu suchen habe. Dieses Verbot müsste nicht notwendig schriftlich fixiert worden sein und wäre ergo auch nicht per Mausklick GA-recherchierbar. Rudolf Steiner dürfte aber aus ganz anderem Grund kein Fußball-Verbot ausgesprochen haben. Als esoterischer Lehrer sprach er grundsätzlich nie ein Verbot aus, weil dies gegen ein okkultes Gesetz verstoßen hätte, wie er in seiner Schrift Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten erläuterte. In der Regel »stellte er Tatsachen hin« [4], charakterisierte Wirkungen, und überließ Verhaltenskonsequenzen der Einsicht und dem freien Willen seiner Zuhörer oder Leser.

Zuallererst: Ich benötige für mein Negativ-Urteil über den hypertrophierten Fußballsport kein Steiner-Zitat, nur die eigene Vernunft, die fragen lässt, warum erwachsene Menschen erstens ihre kostbare Zeit mit sinnlosem Fernseh-Fußball-Interesse vergeuden und zweitens nicht sehen, welche Macht- und Geldmaschine sie allein über ihren Anteil an der Einschaltquote dadurch bedienen. Noch in den 1990er Jahren war ein Tor der Nationalmannschaft nur am Ende der Nachrichtensendung Die Tagesschau eine kurze Mitteilung wert, dagegen eröffneten bei dieser Weltmeisterschaft 2014 nahezu alle Nachrichtenportale ihre Meldungen breit mit Fußball. Wer Fußball ästhetisiert, verkennt die körperliche Brutalität dieses Spiels und sollte sich die Zahlenstatistik der Verletzungen und schweren Fouls zu Gemüte führen – und sich ernsthaft fragen, wieso weltweit eine derart gewalttätige Atmosphäre um diese Spektakel-Spiele herrscht, dass kein WM- oder Bundesligaspiel ohne massives Polizeiaufgebot auskommt.

Insbesondere die Fußballwelt Brasiliens war von einem Ausmaß an Gewalt betroffen, das aufwecken sollte: »Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Schlachten auf der Straße, auch Eisenstangen, Steine oder Revolver werden benutzt. Die Behörden gingen mit Kampagnen und Verboten dagegen vor, verbessert hat sich jedoch kaum etwas. Zuletzt gingen im Dezember 2013 erschreckende Bilder aus Brasilien um die Welt. Hunderte Fans prügelten während einer Begegnung der Vereine Atlético Paranense und Vasco da Gama im Stadion aufeinander ein, selbst am Boden liegenden Männern wurde gegen den Kopf getreten.« [5]Archiv

Was weiter gerne von Fußballfreunden verharmlost und ausgeblendet wird, betrifft die machtvolle Weltfußballorganisation: »Kleingewerbetreibende, Kioskbesitzer und Straßenhändler müssen den Bannmeilen der FIFA-Sponsoren und ihren Verkaufsmonopolen weichen, Schnellstraßen und Schnellbahnen werden rücksichtslos durch Wohngebiete geschneist und gepflügt, Baufirmen werfen Anwohnern Flugblätter in den Briefkasten mit der Aufforderung, ihre Häuser binnen weniger Tage zu verlassen. Kinder- und Frauenorganisationen befürchten, dass die WM vor allem zur Prostitution und sexuellen Ausbeutung von Kindern und Frauen führt, vor allem in den Vorrundenspielorten der Deutschen Nationalmannschaft in Salvador, Fortaleza und Recife.« [6] ArchivMachtpolitik im Hintergrund schon, aber Fußball und sexuelle Ausbeutung? Fußball und sexualisiertes Verhalten – eine Korrelation, die laut Nachrichtenmagazin Focus die Statistik des Pornografie-Portals Youporn nahelegt. [7]

Recherchiert man bei Rudolf Steiner findet man Erstaunliches: Hatte er schon damals auf den Zusammenhang von körperlichen Wettkampfbrutalitäten und sexueller Emotionalisierung hingewiesen – sogar andeutungsweise im Verein mit einer politisch machtvollen, kaltblütigen Geldmaschine [8] Archivim Hintergrund? In der Allgemeinen Menschenkunde heißt es: »Dass wir allmählich auch das Turnen bloß sinnlos gemacht haben, zu einer Tätigkeit, die bloß dem Leibe folgt, das war eine Begleiterscheinung des materialistischen Zeitalters. Dass wir es gar erhöhen wollen zum Sport, wo wir nicht bloß sinnlose Bewegungen, bedeutungslose, bloß vom Leibe hergenommene Bewegungen sich auswirken lassen, sondern auch noch den Widersinn‚ den Gegensinn hineinlegen – das entspricht dem Bestreben, den Menschen nicht nur bis zum materiell denkenden Menschen, sondern ihn herunterzuziehen bis zum viehisch empfindenden Menschen. Übertriebene Sporttätigkeit ist praktischer Darwinismus. Theoretischer Darwinismus heißt behaupten, der Mensch stamme vom Tier ab. Praktischer Darwinismus ist Sport und heißt, die Ethik aufstellen, den Menschen wiederum zum Tiere zurückzuführen.« [9]Archiv

Dazu passt eine lesenswerte Kritik in der Wochenschrift Die Zeit, die den aktuellen »Darwinismus« des Fußballs bemerkt: »Und jeder hört am Unterton: Da wird bald einer rausgebissen aus dem darwinistischen Millionenspiel. Ist zu wenig los auf dem Rasen, pfeifen die Bierbäuche von den Rängen. Elf Freunde sollt ihr sein – ein Witz! In Wahrheit: die totale Verkitschung perverser Verhältnisse. Die Sentimentalität ist die Kehrseite der Brutalität.« [10]Archiv

Dass diese sportliche Form des praktischen Darwinismus methodisch planvoll – als destruktives System der »Menschheitserziehung« – systematisch betrieben wird, darauf hat Rudolf Steiner aufmerksam gemacht: » Was da vorhanden ist, das kann man nach und nach in ein System der Menschheitserziehung bringen; man muss nur immer mehr und mehr die grobe Verwandtschaft des Menschen mit der Natur in ein System der Körpererziehung bringen. Man kann dadurch – und ich will damit weder schimpfen noch etwas besonders Kritisches zum Ausdruck bringen, sondern nur Tatsachen hinstellen –, man kann dadurch eine Art praktischen Darwinismus treiben, dass man den Menschen verwandter macht mit dem, was ihn mit der Erde verbindet. Man kann den Menschen in einer gewissen Beziehung ›veraffen‹. Das ist die praktische Gegenseite. Sie wird scheinbar instinktiv, aber doch wohlgeleitet in der besonderen Form des Sportwesens und ähnlicher Dinge, im hohen Grade kultiviert.« [11]Archiv

Die knapp und allgemein gehaltenen Hinweise Steiners wurden in Waldorfschulen erörtert und reflektiert; ein Vorstandsmitglied der anthroposophischen Gesellschaft veröffentlichte schon 1929 eine ausführliche anthropologische Erörterung mit dem Titel Die seelischen und geistigen Untergründe des Sports. Darin kommt der Autor auch auf den Fußball zu sprechen: »Man braucht nur zu sehen, wie beim Fussballspiel das Bein die Rolle des ballspielenden Arms übernommen hat und der eigentliche Arm zum Balanceorgan degradiert wird! Alle Bewegungen des Footballers sind auf die Knie hin orientiert, der Kopf ist gerade gut genug, um wie ein Extremitätenstumpf zum Abstoßen des Balls zu dienen. Es gibt keine Verrichtung, die menschliche Leibesbildung plumper missachtet als diese.« [12]Archiv

Vielleicht weil ich selbst Fußball gespielt hatte, selbst kindlicher Fan war, kann ich verstehen, warum Menschen die Schattenseiten des Fußballs ausblenden. Man spielt ja selbst nur in der Sonne, fair unter Freunden oder im lokalen Verein – und nicht als Millionen-Profi in der Bundesliga. Als Kind spielt man alles gern, sucht Vorbilder, Idole – man ahmt die Bewunderung der Erwachsenen für die virtuosen und kämpferischen Helden des Rasens nach; als Jugendlicher sucht man Gemeinschaft in der Gruppe – aber diese Suche geht letztlich in die falsche Richtung und kann zur Fan-Sucht werden: »Fußball ist eine Sucht, die vor allem Männer befällt. Eine Droge, die Väter den eigenen Söhnen verabreichen. Schon kleine Jungs lernen Spiele auswendig, leeren ihre Spardosen für Sammelalben, kleben Bilder ihrer Kicker-Ikonen ein und kommen nicht mehr davon los. Fußball ist seelische Schwerstarbeit für einen Fan. Sich davon zu distanzieren ist wie Alkoholentzug.« [13]Archiv

Ich konnte an mir selbst die suchtartige Faszination des Endspiels der Nationalmannschaft beobachten, denn da die Zeit des Schreibens dieser Zeilen fortgeschritten war, und ich das Ergebnis des Endspiels wissen wollte, klickte ich mich zum Live-Stream durch und landete in der Verlängerung. Schnell wurde ich wieder gepackt, ich registrierte körperliche Anspannung, die Magengrube war affiziert, ich war dabei »angeschlossen zu werden« an eine um mich herum spürbare Massenemotionalität. Welch eine real erlebbare geistige Macht! Immer noch Null zu Null. Ich reiße mich los und gehe zu Bett.

Was bietet die Anthroposophie Rudolf Steiners als Alternative? Steiners Antwort ist komplex und einfach zugleich. Die einfache Variante ist hier zitierbar und lautet in Kurzform: »Worauf es ankommt, das ist: künstlerisch unsere Weltanschauung in das Geistesleben der Gegenwart und Zukunft hineinzustellen.« [14]Archiv Albert Steffen schrieb erläuternd 1925 »Vom Westen her kommen andere Bewegungsspiele: Boxkampf und Fußball. Fäuste und Füße wirbeln, während der Osten mit untergeschlagenen Beinen verharrt und im Meditieren wartet, dass unsere europäische Welt in den Abgrund rollt.« Steffen hoffte darauf, dass die Künste, insbesondere die Eurythmie ergriffen werde: »Übt sich die neue Generation an ihr, dann läuft sie, herangewachsen zu Werken, nicht Gefahr, mit den Füßen an die Erde gefesselt zu werden, oder mit den Gedanken in das Nirwana zu entschweben.« [ 15]Archiv – Eurythmie statt Fußball? Rudolf Steiner lag das wohl nicht fern, wie sich Lory Maier-Smits erinnert: »Auf einmal sprach Rudolf Steiner nun so weiter, als ... solle man Eurythmie in einem solchen Umfange in die Welt tragen, dass eines Tages sogar der Fußball durch sie verdrängt werden könne.« [16]Archiv

Anmerkungen

[1]   Gerhard Vinnai, Fußballsport als Ideologie: Durchgesehene digitale Wiederveröffentlichung mit aktuellem Vorwort 2006, Bremen 2006, http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2006/809/pdf/Fussballsport_als_Ideologie.pdf.

[2]   http://www.info3-magazin.de/aber-ja-waldorf-darf-fussball/
»Obskur«: Rudolf Kischnick, Leibesübung und Bewusstseinsschulung, Basel 1955. Kischnicks Schrift, die ich mir zwischenzeitlich bestellt und gelesen habe, ist keinesfalls obskur, sondern ausgesprochen empfehlenswert.

Artikel in der Zeitschrift Erziehungskunst: Michael Birnthaler: Fußball unser, 6/2013; Eigentore in Sache Fußball, 3/1997; Der Streit um den Fußball, 6/2006. Fabrizio Venturini: Von der Himmelswiese in die Kampfarena, 6/2014.

[3]   Michael Birnthaler: Fußball unser, 6/2013.

[4]   Siehe Zitat unten im Text (Anmerkung 13)

[5]   http://www.abendblatt.de/sport/fussball/wm-2014/article128746548/Extreme-Hooligans-in-Brasilien-Die-dunkle-Seite-der-WM.html

[6]   Alle zitierten Website-Zugriffe erfolgten am 6. Juli 2014. http://www.menschenrechtewm2014.org/nachrichten/semcategoria/brasilien-in-der-zerreiprobe-menschenrechtsverletzungen-und-die-wm-2014

[7]   http://www.focus.de/wissen/videos/deutschland-im-ballfieber-porno-statistik-enthuellt-nutzungsverhalten-von-fussballfans_id_3967114.html

[8]   http://www.zeit.de/2014/25/fifa-ruiniert-fussball  
In dieser Woche wurden mehrere Hundert Millionen Euro – zwangseingetrieben in allen deutschen Haushalten – für ein Produkt bezahlt, von dem noch niemand weiß, wie es einmal aussehen wird. Das finden Sie absurd und skandalös? Herzlich willkommen im Reich des Fußballs und seiner Regierung, der Fifa!

[9]   Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik: 14 Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 21. August - 5. September 1919 anläßlich der Begründung der Freien Waldorfschule, Dornach 1992. S. 191-192.

[10] http://www.zeit.de/2014/25/fussball-briefwechsel-martenstein-rueckert

[11] Rudolf Steiner, Erdensterben und Weltenleben ; Anthroposophische Lebensgaben ; Bewusstseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft, Dornach 1991. S. 327-328.

[12] Hermann Poppelbaum, Die seelischen und geistigen Untergründe des Sports, Dornach 1929. S. 36.

[13] http://www.zeit.de/2014/25/fussball-briefwechsel-martenstein-rueckert

[14] Ebenda, S. 319.

[15] Albert Steffen, Der Künstler zwischen Westen und Osten, Zürich-Leipzig 1925. S. 49-50.

[16] Lory Maier-Smits, Das dionysische Element, in: Rudolf Steiner (ed), Die Entstehung und Entwickelung der Eurythmie, Dornach 1965, S. 44.