Rettet die Weihnachtspiele

Wilfried Ogilvie

Passen die Spiele nicht mehr in unsere Zeit? Fehlt die gewachsene, von den Eltern und der Zeit gepflegte Frömmigkeit? Hat der Intellektualismus seelisch die Aufnahmefähigkeit für Spirituelles in Gedanken und Gefühlen verbaut? Gelten sie als alter Hut, nach dem Muster: »Was in den Spielen vorgetragen wird, kennen wir ja schon und brauchen wir nicht jedes Jahr aufs Neue anzusehen«. Oder: »Was gehen uns die Geschichten von vor 2000 Jahren an? Nach dem Krieg war ich zwei Jahre in der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe. Dort erlebte ich die (noch) verehrten Lehrer Max Wolffhügel als strahlenden roten König, Herbert Hahn als blauen und Helmut von Kügelgen als grünen König – und nicht zu vergessen Karl Schubert als Baumsinger. Er soll von Rudolf Steiner mit einem Tritt auf die Bühne befördert worden sein, als er vor Lampenfieber zögerte. Viele Jahre habe ich mit Dozenten und Studen­ten der Alanus-Hochschule das Paradeis- und das Dreikönigspiel einstudiert und öfter dabei selber eine Rolle übernommen.

Papa, es brennt!

Als ich einmal eine Probe auf der Bühne begann und den Baumsinger spielte, erschien unsere damals etwa 9-jährige Tochter am hinteren Eingang des Saales. Ich war etwas irritiert, aber trug dennoch den sehr langen Begrüßungstext bis zum Ende vor. Dann frug ich meine Tochter, was sie denn wolle? »Papa, es brennt!« – Sie hatte sich nicht getraut, mich zu unter­brechen, vielleicht weil ich so voller Engagement meinen Text vortrug. (Glücklicherweise wurde das Feuer gelöscht, bevor die Feuerwehr anrückte, da ein Student beherzt eingriff.)

Der Engel hat es besonders schwer

An diesem Beispiel zeigt sich, wie es bei allen Rollen darauf ankommt, dass man bis in die letzte Reihe des Saales die Menschen anzusprechen versteht. Wie erreicht man das? Dafür genügt es nicht, dass ich selber an den Text glaube, den ich vortrage. Ich muss das Ereignis, von dem ich berichte, in die Gegenwart holen. Es ist ja etwas, das mich tief innerlich erschüttert hat, was ich unbedingt allen Menschen mitteilen muss – so übervoll ist meine Seele, in welche Rolle ich auch immer schlüpfe. Und doch muss ich aus dem Persönlichen heraus ins Allgemeingültige kommen, sozusagen hinter mir stehen, mich selber führen lernen, mir selber kritisch zusehen und zuhören. Besonders schwer hat es da der Engel. Man glaubt ihm selten. Einmal habe ich mich als Regisseur vor den Engel hingestellt und ihn immer wieder die erste Zeile sprechen lassen. Jedes Mal wich ich ein paar Schritte zurück. Mir sollte er  verkünden. Ich ging von der Bühne in den Saal, immer weiter zurück, bis ich ganz hinten angelangt war und über die große Distanz hinweg mich die Verkündigung erreichte.

Die Urbilder der Spiele reichen für ein ganzes Leben

Die Jugend wächst heute in einem rudimentären Kulturleben auf. Nehmen wir ihr nicht noch diese Urbilder menschlicher Substanz, die wir aus ihrem Unterbewusstsein aufrufen können! Ihr ganzes Leben lang werden sie ihnen dann latent erreichbar bleiben: Das Bewusstsein von unserem Ursprung – der Ruf aus der Zukunft; die Sehnsucht nach dem reinen Gemüt der Hirten; das Streben nach dem Geistbewusstsein der Könige. Wenn die Schüler Probleme mit den Spielen haben oder sich nicht konzentrieren können, sollte zumindest die Frage erlaubt sein: Liegt es vielleicht an der Art der Darstellung? Mir scheinen die Spiele ein wichtiges Ferment in den Waldorfschulen zu sein. Das zu verteidigen wird aber eine harte, gekonnte Arbeit an ihrer Gestaltung verlangen. Wenn es uns nicht gelingt, die Spiele in die Aktualität hereinzuholen, sind sie verloren!