Schüler im Supermarkt

Andrea Schröder

Liebe Eltern pubertierender Schüler, liebe Lehrer pubertierender Schüler – die Schule ist unter anderem ein Ort des Lernens, darüber möchte ich zu Ihnen sprechen!

Ich rufe Ihnen zu: Halten Sie durch! Da Rudolf Steiners Texte nicht immer leicht zu verstehen sind, habe ich mir erlaubt, meine Ausführungen über das Lernen in der Pubertät in ein aktuelles Bild zu bringen: Das Bild des Supermarktes. Und da der gute Pädagoge immer an den Stand der Hörer anknüpfen soll, habe ich mir erlaubt, Ihr Einkaufsverhalten mit dem Ihrer Schutzbefohlenen zu vergleichen.

Stellen Sie sich einen Supermarkt mit einem schönen, qualitativ hochwertigen Angebot vor. Und jetzt kommen Sie, weil Sie dieses und jenes im Haushalt brauchen. Also gehen Sie dahin, es ist ja bequem, denn Sie finden alles, was Sie brauchen und noch mehr vor Ort. Sie schnappen sich die Einkaufstasche und einen Einkaufswagen. Dann kaufen Sie alles ein und ab geht es zur Kasse. Das wäre ein linearer Einkauf, der geht direkt von A nach B und macht keine Umwege.

Der größte Fehler von Eltern Erstgeborener und jungen Lehrerkollegen ist: Sie denken, Schüler machen das auch – direkt von A nach B und keine Umwege. Also auf zum Supermarkt, Chip in den Einkaufswagen, Einkaufzettel raus, Sachen in den Wagen legen, ab zur Kasse, bezahlen und alles in die Einkaufstasche packen.

Denken wir uns einmal, der Supermarkt sei die Schule. Ihr Sprössling ist der Einkäufer, die Produkte sind die verschiedenen Unterrichtsfächer, die Einkaufstasche ist der Kopf ihres Kindes und der Wagen ist sein Rucksack, der alle schulwichtigen Zutaten enthalten sollte.

Aber: Der Schüler kauft nicht linear ein, genauso wenig wie er linear lernt – also sein Wissen erwirbt. Das sieht ganz anders als bei Ihnen aus! Nämlich so:

Zuerst überlegen sich manche Schüler, ob sie überhaupt heute einkaufen gehen müssen. Vielleicht kann man sich ja bei anderen durchfuttern: Das heißt Hausaufgaben und Epochenhefte von anderen kopieren, oder warten, bis die Mitschüler das Tafelbild erarbeitet haben und dann einfach nur abschreiben, besser noch: mit dem Handy das Tafelbild fotografieren und in ruhiger häuslicher Atmosphäre hoffentlich daran arbeiten.

Das betrifft natürlich immer nur die Kinder anderer Eltern, nicht Ihr eigenes. Gehen wir davon aus, dass Ihr Sprössling pünktlich und ohne für den Lehrer langweilige Ausreden zum Unterricht erscheint, d.h. also: vor dem Supermarkt steht.

Erstes Problem: Chip für den Einkaufswagen vergessen – d.h.: die Arbeitsmaterialien für den Unterricht sind nicht dabei. Weil: Meine Mutter hat den Rucksack leergeräumt, ich habe bei einem Freund übernachtet, ich habe die Sachen auf meinem Schreibtisch vergessen, ich habe Ihnen doch alles per Mail geschickt, der Drucker zuhause funktioniert gerade nicht, wie, heute ist der achte August? Ich dachte, ich wäre morgen dran!

Zweites Problem: Die Einkaufstasche fehlt. Das heißt, Ihr Sprössling hat seinen Kopf nicht dabei. Weil: Gestern zu lange Party gefeiert, nicht genug geschlafen; weil: Mir geht es heute nicht so gut; weil: Liebeskummer; weil: Streit mit der Verwandtschaft oder der besten Freundin. Diese Gründe sind auf das Allerbeste von jedem Lehrer hoffentlich nachvollziehbar!

Das betrifft natürlich immer nur die Kinder anderer Eltern, nicht Ihr eigenes. Gehen wir einmal davon aus, Ihr Sprössling ist bestens vorbereitet: Er steht pünktlich vor dem Supermarkt und hat den Chip für den Einkaufswagen und die Tasche dabei.

Auch wenn Sie einen Einkaufszettel haben, schlendern Sie durch den Markt und nehmen mehr oder weniger zielgerichtet Waren aus den Regalen und legen sie in den Wagen. Extras sind möglich und nicht jeder kauft dasselbe. Aber –Grundnahrungsmittel sind obligatorisch: Brot, Butter, Milch und Obst oder Gemüse – Mathe, Deutsch und Englisch. Das ist linear orientierter Basiseinkauf. Das ist Pflicht, der Rest ist Kür. Je größer das Angebot des Supermarktes, desto mehr Kür ist möglich. Das Fächerangebot an Waldorfschulen ist übrigens ziemlich groß. Das Interessante ist, dass Ihr Sprössling unter Umständen ganz unerwartete, tolle Sachen in seinen Einkaufwagen legt – nicht unbedingt Grundnahrungsmittel – aber es gibt ein tolles und originelles Essen! Es kann passieren, dass Ihr Sprössling nur Käse einkauft und das nicht nur einmal, sondern wochenlang! Wenn Sie mit ihm darüber sprechen, werden Sie verblüfft feststellen,, dass er alles über Herstellung, Konsistenz, Einfluss der Futtermittel, den Fettgehalt und die EU- Käsemarktordnung weiß. Das »lineare« Argument ist:  es geht gar nicht um Käse, sondern darum, das zu lernen , was man für das Abi braucht. Aber: Eltern und Lehrer müssen aufpassen, dass das lineare Denken in Richtung Lehrpläne und Abschlüsse nicht dominiert. Denn: Der Sprössling hat freiwillig und ohne Druck ganz viel über Käse gelernt. Das ist großartig. Es wäre praktisch, wenn das Stück Käse zu den Abschlüssen passt – aber: das kann nicht alles sein!

Dass Schüler ihre Interessen und Begabungen herausfinden, ist das größte Anliegen unserer Schule! Darum liegt bei uns so viel Verschiedenes in den Regalen! Wir bieten schon die »Grundnahrungsmittel« in ausreichender Menge an, aber auch die Möglichkeit für »Lernen auf Nebenwegen«. Darauf sind wir stolz!

Aber hier kommt das dritte Problem, wie schon gesagt, das betrifft natürlich immer nur die Kinder anderer Eltern, nicht Ihr eigenes: Der Schüler betritt den Supermarkt mit Wagen und Tasche, aber ohne Einkaufszettel. Er weiß entwicklungsbedingt – schließlich ist er in der Pubertät – nicht so recht, was er in seinen Einkaufswagen legen soll – nur Käse kann es auf die Dauer nicht sein. Er nimmt dies und das aus dem Regal, geht weiter, kehrt um und legt Sachen zurück.

Fragen Sie einmal ihre Tochter, wie lange sie für den Einkauf eines Fläschchens Nagellack braucht, vor allem, wenn die beste Freundin dabei ist. Für Erwachsene, die unter Zeitdruck einkaufen, ist das kaum nachvollziehbar und trotzdem eine Tatsache: Der Schüler geht beim Lernen drei Schritte vor und zwei zurück! Er denkt nicht linear, das geht in dem Alter noch nicht, er ist kein Jäger, sondern ein Sucher und Finder! Das ist viel anstrengender und schwieriger, als mit einem Einkaufzettel stracks zur Kasse durchzustarten! Da legt er schon mal Sachen zurück, weil er nicht sicher ist, ob er die braucht:

»Was war gleich nochmal ein ›Adverb‹? Lag doch schon mal im Wagen – jetzt ist es wieder weg … Im Regal? In welchem Regal?« Zurückgelegt mangels Interesse wäre immerhin eine Erklärung. Dazu kommt die Sache mit Jungen und Mädchen – ich weise ausdrücklich darauf hin, dass Ausnahmen die Regel bestätigen: Viele Mädchen haben von Geburt an eine gewisse Liebe zur Sorgfalt, was sich in Schrift, Epochenheftgestaltung und Fleiß beim Vokabellernen zeigt. Damit kommt man fürs Erste ziemlich weit und ist schon fast an der Kasse. Andererseits legen Mädchen Sachen in den Wagen wie Lipgloss, Lidschatten und Mascara, was natürlich für Jungen völlig indiskutabel ist. Jungen sind eher verkannte Genies und zerstreute Professoren – vor der elften Klasse ist mit ihnen nicht unbedingt zu rechnen! Gäbe es für Lehrer einen Gummibärchenbonus für das Korrigieren kaum lesbarer Jungen-Epochenhefte, würden einige Kollegen eine ernsthafte Erwägung in Richtung Fitness-Studio in Betracht ziehen müssen. Dazu kommt: Schüler dürfen auch vergessen, das ist gesund bei der Menge, die sie jeden Tag aufnehmen sollen.

Bevor Sie sich den Mercedes Benz kaufen und damit die Haushaltskasse deutlich überstrapazieren, schlafen Sie schließlich auch eine Nacht drüber.

Vom linearen Einkauf her betrachtet geht es hier aber bei Jungen und Mädchen eher spiralförmig zu und der Einkaufswagen füllt sich nur langsam, der Weg zur Kasse ist nicht ganz klar und hoffentlich reicht das Geld. Lehrer haben oft aus pädagogischen Gründen Mitleid (das zeigt sich in verständnisvollem Anhören der aberwitzigsten Entschuldigungen), neigen aber manchmal durchaus zur Ungeduld, wenn das Adverb auch beim dritten Nachfragen nicht im Wagen liegt. Eltern geht es ähnlich, insofern sie überhaupt noch bei den Supermarkteinkäufen ihrer Kinder durchblicken.

Kommen wir zu einem weiteren Aspekt: Fast food! Ihr Sprössling wird unter Umständen behaupten, dass das die einzig genießbare Nahrung sei – nicht zuletzt aus Bequemlichkeit. Falls Sie einmal zu Fast food greifen, ist das eigentlich nicht so schlimm – schließlich können Sie ja Dreisterne-Menüs kochen, da kann man schon mal in die Niederungen der Fertigküche herabsteigen. Aber wenn man gar nicht gelernt hat, zu kochen, erreicht man nie den Olymp des schmackhaften Essens. Mit anderen Worten: hat man Rechnen im Kopf gelernt, dann kann man ruhig zum Taschenrechner greifen, denn die entsprechenden Schaltungen im Gehirn sind ausgebildet. Greifen Schüler zu früh zu solchen schnellen Hilfen, dann verkümmern die Schaltungen oder werden gar nicht erst installiert, es gilt also, die Zeitfenster für die richtigen Entwicklungen einzuhalten.

Auch sollte man den Lernwert von versalzener Suppe und angebrannter Pizza nicht unterschätzen – hier ist Fehlerkultur zwar meistens ärgerlich, der Lerneffekt dagegen nachhaltig. Also: Lassen wir die Kinder Fehler machen und längere Wege gehen – Hauptsache, sie bleiben in Bewegung und lassen nicht für sich denken!

Es bleiben allen Beteiligten: liebevolle Begleitung, verständnisvolle Gespräche, Hoffnung und Vertrauen auf die guten Schicksalsmächte, dann kommt der Schüler auch ohne Probleme durch die Kasse – durch die Abschlussprüfungen.

In diesem Sinne rufe ich Ihnen noch einmal zu: Halten Sie durch!