Waldorf – bitte im Austausch! Blick eines Grenzgängers

Ulrich Bürck

Na, wo haben Sie das schon gelesen? War's im vorletzten Elternbrief aus dem Waldorfkindergarten, oder war’s doch in der »Erziehungskunst«? – Falsch: Diese Themen finden sich mittlerweile auch ohne anthroposophisches Gütesiegel in der deutschen Bildungsdiskussion – hier aufgeschnappt in der »Zeit« vom 28. Mai (Nr. 22/2015). Ein Seufzer der Genugtuung mag sich manchem entringen. Es ist die Genugtuung, dass all die lächelnd-verachtenden Blicke, die wir mit unseren Waldorf-Idealen schon ernten mussten, nun in ihre Schranken verwiesen worden sind: Es sind eben doch wir diejenigen, die auf dem richtigen Weg sind!

Es ist ein gut eingeübter Waldorf-Reflex, dass wir uns erstens in der Gesellschaft unverstanden fühlen, zweitens für uns selbst ganz klar die »Guten« sind und drittens darauf verzichten, andere Menschen an unseren Gedanken und Erfahrungen teilhaben zu lassen oder sie gar für unsere Ideen gewinnen zu wollen. Es ist dies etwas sehr Menschliches, und dass dieser Reflex anscheinend gerade in der Waldorfszene besonders häufig vorkommt, liegt daran, dass dort besonders viele Ideale hochgehalten werden. Denn je höher der Anspruch ist, den jemand hat, desto stärker setzt er sich auch der Gefahr aus, diesem Anspruch nicht gerecht zu werden. Ist es nicht verständlich, dieses Scheitern am eigenen Anspruch irgendwie vertuschen und schönreden zu wollen, wenn man einerseits sowieso schon von manchen misstrauisch beäugt wird, andererseits aber weiß, dass man eigentlich an etwas Wertvollem dran ist? Es ist also an der Zeit, vom hohen Ross herunterzusteigen und sich dafür zum Beispiel wieder in die öffentliche Bildungsdiskussion einzubringen, indem man einen Blick fürs Detail entwickelt und dort deutlich Stellung bezieht. Anlässe gäbe es genug.

Warum nicht Eurythmie an Regelschulen und Schulbücher bei Waldorfs?

Zum Beispiel: Man bringt die Erfahrung, die man bewegungspädagogisch mit Eurythmie gemacht hat, in die Lehrerausbildung und Bildungspläne ein. Ich weiß von staatlichen Sportlehrern, die nach solchen Impulsen dürsten! Oder man berichtet von den Erfahrungen mit Klassenspielen!

Überhaupt: Man nutzt noch mehr, dass es bei manchen Themen Gleichgesinnte außerhalb der Waldorfszene gibt. Wenn beispielsweise die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig angesichts der Tatsache, dass viele Kinder zwischen drei und acht Jahren bereits regelmäßig im Internet aktiv sind, nicht auf die Idee kommt, auf die Gefahren von zu früher Mediennutzung hinzuweisen, sondern lediglich feststellt, dass die Medienkompetenz der Kinder früh zu fördern sei, so kann man sich Unterstützung holen etwa von der ICILS-Studie von 2013, deren Ergebnisse deutlich machen, »dass die weit verbreitete Annahme, Kinder und Jugendliche würden durch das Aufwachsen in einer von neuen Technologien geprägten Welt automatisch zu kompetenten Nutzerinnen und Nutzern digitaler Medien, nicht zutrifft«.

Dieses Ergebnis – vor allem, wenn man es zum Beispiel ergänzt durch Manfred Spitzers Veröffentlichungen – beinhaltet nämlich nicht nur, dass Kinder, die die digitalen Medien nutzen, unbedingt begleitet werden sollten, sondern stellt außerdem auch das in der aktuellen Bildungsdiskussion manchmal anzutreffende »je früher, desto besser« in Frage. Waldorfkindergärten haben da viel effektivere Methoden.

Eine banale waldorfpädagogische Feststellung ist dies nur, wenn es im Feindbild-Kontext »Waldorf versus staatliche Pädagogik« betrachtet und verwendet wird. Sobald wir hingegen den Boden einer gemeinsamen pädagogischen Untersuchung betreten, kann so etwas zu einem wertvollen Beitrag für viele pädagogisch tätige Menschen werden. Das gilt auch in der Gegenrichtung: Waldorfpädagogen überprüfen ihre althergebrachte Schulbuch-Allergie! Passiert ja auch schon mancherorts. Oder: Waldorfpädagogen öffnen sich dem Wert von freiwilligen Interessengruppen, etwa »Musik-AGs«, wie sie fast jede staatliche Schule anbietet, anstatt immer und ausschließlich alles für alle leisten zu müssen (Stichwort »Klassenorchester«). – Das klingt jetzt vielleicht fast wie ein Widerspruch zum eben genannten Thema »Klassenspiele«: Dort wird ja etwas mit allen, mit der ganzen Klasse gemacht, das andernorts nur in AG’s stattfindet!

Aber genau darum geht es: nicht um Ideologie, sondern um genaues Hinschauen, was wo funktioniert – oder auch nicht. Denn: Was wollen wir von der Gesellschaft? Nur das Geld? 80 Prozent staatliche Unterstützung? Oder 100 Prozent? Meine große Anerkennung für das, was der Bund der Freien Waldorfschulen in dieser Hinsicht schon erreicht hat – das ist durchaus nicht in allen Ländern so! Aber wie wäre es mit einem lebendigen Austausch?

Lehrreicher Blick von außen

Ich selbst durfte erfahren, wie gefragt »Waldorf« ist, als ich – nach sechs Jahren Unterrichtstätigkeit an einer Waldorfschule und damals überfordert mit den kollegialen Beziehungen in der schulischen Selbstverwaltung – mich an einem Gymnasium vorstellte und von der Schulleitung erfuhr, es sei außerordentlich willkommen, wenn ich meine waldorfpädagogische Erfahrung einbrächte! Ja, ich hatte es damals selbst nicht geschafft, mich frei zu machen von dem Anspruch, ein perfekter Waldorflehrer zu sein. Und genau das war es auch gewesen, was meine kollegialen Beziehungen schwierig gemacht und zu dem Gefühl einer Überforderung geführt hatte. Um wie viel inspirierender könnte unsere Kommunikation sein, wenn wir darauf verzichten könnten, stets den Schein des Unanfechtbaren aufrecht zu halten, und stattdessen gemeinsam die konkreten Herausforderungen unseres Alltags angehen würden! Erst jetzt – durch mein pädagogisches »Grenzgängertum« – verwandelt sich mein eigener Blick für den Wert der Waldorfpädagogik: weg vom Selbstbild des erhabenen und erleuchteten Pädagogen und hin zu einer neuen Begeisterung für die Sache selbst. Letztere ist auch kommunizierbar! Das erstere nicht. Wenn Martin Spiewak im eingangs zitierten »Zeit«-Artikel schreibt: »Damit Kinder schlau werden, braucht es keine Intelligenztrainings oder Kurse in Frühenglisch und Baby-Yoga« und feststellt, dass »entscheidend ist, was die Eltern im Alltag tun, intuitiv, ohne Programm – und was sie unterlassen«, dann ist dies zum Beispiel ein Auftrag an alle Waldorfpädagogen, die Elternarbeit wieder wichtiger zu nehmen! Aber nicht auf die moralische Tour – dies bewirkt nur allzu häufig, dass Eltern wider eigene Einsicht ihre Führung den Kindern gegenüber aufgeben, um sich – quasi waldorf-kompensierend – frei und weltoffen zu fühlen. Nein, wie wäre es mit einer echten Untersuchung? Am besten mit einer, bei der es nicht ehrenrührig ist, in einzelnen Bereichen die Erfahrung des Scheiterns gemacht zu haben?

Zum Autor: Ulrich Bürck ist Oberstudienrat, Vater von fünf Kindern (vier davon gehen in Waldorfeinrichtungen), war von 2003 bis 2009 Musiklehrer an der Tübinger Freien Waldorfschule und unterrichtet seither am Tübinger Uhland-Gymnasium.

Literatur: M. Spiewak: Heimvorteil, veröffentlicht innerhalb der »Wissen«-Serie »Was macht intelligent?«, »Zeit« Nr. 22/2015 | M. Scheswig auf der Homepage des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 23. 6. 2015: Eltern möchten ihren Kindern einen guten Start in eine Gesellschaft ermöglichen, die sich zunehmend digital organisiert. Deshalb müssen Kinder von Anfang an die Chance haben zu lernen, wie sie gut und souverän mit Medien umgehen | ICILS 2013: ICILS 2013 auf einen Blick – Presseinformationen zur Studie und zu zentralen Ergebnissen – http://ifs-dortmund.de | M. Spitzer: Digitale Demenz, München 2012. Spitzer wird längst auch von staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen zu Vorträgen eingeladen.