Was es heißt, heute Eurythmie zu unterrichten

Wolfgang Leonhardt

Die Geburt eines Kindes ist ein zweizeitiges Geschehen. Nach der Geburt erfolgt eine zweite Geburt dessen, was wir die Nachgeburt, das heißt die Placenta mit den Eihüllen, nennen. Diese Nachgeburt ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Zentrum des Interesses einer spirituellen Menschen- und Naturwissenschaft gerückt. Es zeigte sich immer deutlicher, dass die gesamte Embryonalbildung von diesen den Embryo umgebenden Organen bis ins Einzelne geleitet wird und sie sich erst bei zunehmender Verselbstständigung des Embryos bis zur Geburt zurückbilden. Durch die Anthroposophie wissen wir, dass die Placenta die höchsten menschenbildenden Ich-Kräfte, das höhere kosmische Ich-Wesen des Menschen ausdrückt. In allen alten Kulturen, aber auch teilweise heute noch bei den Naturvölkern, zeigt sich dies durch besondere rituelle Gebräuche im Umgang mit der Nachgeburt.

Durch die Geburt haben sich diese bildenden umhüllenden höheren Geisteskräfte nun zurückgezogen, haben das Kind gewissermaßen alleine zurückgelassen. Aber wir wissen auch, dass diese Kräfte uns nicht verlassen haben, sondern uns ständig umgeben, gewisser­maßen auf uns warten. Der gesamte Mensch ist fortwährend wie geistig umspült von den höheren kosmischen Ich-Kräften und es entsteht die Frage, ob es gelingt, in der Entwicklung schon im Kindesalter an sie anzuknüpfen.

Welche Möglichkeiten gibt es, möglichst früh dem kindlichen Leben einen Zugang zu verschaffen zu diesen höheren kosmischen Kräften? Das geschieht, wenn wir den ganzen peripherischen Menschen mit seinen Gliedern aktivieren und die Kinder sich bewegen lassen nach Gesetzen, die dem Kosmos abgelauscht sind. Der Lebensleib vollzieht während des Sprechens fortwährend solche inneren, äußerlich zunächst unsichtbaren Bewegungen. Darin bilden sich kosmische Entwicklungsgesetze ab und aus ihnen hat Rudolf Steiner die eurythmischen Bewegungen abgeleitet.

So darf das Kind durch Eurythmie über den Lebensleib bis in die physische Bewegung hinein etwas von diesen Bildegesetzen aufnehmen, die über die Placenta in die Embryonalbildung gewirkt haben. Der Eurythmieunterricht führt auf einer höheren Stufe im Ätherischen fort, was über die Placenta im Physischen vorbereitet wurde.

Wie wichtig und für die ganze Entwicklung des Menschen bedeutend dieser frühzeitige Eurythmieunterricht ist, zeigt das Fortschreiten des äußeren materialistischen Lebens, in das die Menschen immer mehr eingespannt sind. Irdische Gesetzmäßigkeiten, stofflich-materielle Zwänge, wirtschaftliche Abhängigkeiten breiten sich aus, wollen den Menschen bis in sein äußeres Tun, Bewegen, Aussehen beherrschen. Der irdische Mensch, der Stoffwechsel, das Materielle, das egoistische Wollen wird mächtig. Der kosmische Mensch, das Aufmerksame, Lauschende, Feinempfindend-Geistige zieht sich zurück. So ergibt sich für die Waldorfschulen eine besondere Verantwortung, dem kosmischen Menschen zu helfen.

Natürlich geschieht das nicht nur durch Eurythmie, aber ohne Eurythmie echte Waldorfpädagogik aufrechtzuerhalten, wird immer schwerer werden, denn durch sie werden die Kinder im innersten Ätherischen angeregt, aufgeschlossen, angefeuert, um schöpferische Kräfte auf allen Gebieten zu entfalten. Aber das zeigt auch, dass die Eurythmie gegen die heutige Zeitströmung anarbeiten muss, um den Widerstand des Irdischen immer von Neuem überwinden zu können.

Warum Eurythmielehrer entlastet werden müssen

Nun gibt es heute an manchen Waldorfschulen Entwicklungen, die die Arbeit der Eurythmielehrer zusätzlich erschweren. Rudolf Steiner wollte, dass der Eurythmie-Unterrichtende nicht mehr als maximal zwölf, besser zehn Stunden Eurythmie-Unterricht erteilt. Im Laufe der Jahrzehnte sind daraus 18 Stunden geworden und mittlerweile gibt es Kollegien, die auch dieses nicht anerkennen und Eurythmisten in zusätzlichen Stunden oder andere Tätigkeiten einbinden wollen. Daraus entstehen Konflikte und Nöte. Denn diese Entwicklung läuft darauf hinaus, die Arbeit der Eurythmie-Unterrichtenden und den damit verbundenen kosmischen Impuls unwirksam werden zu lassen. Warum ist das so?

Eurythmie-Unterricht ist nicht vergleichbar mit irgendeiner anderen Unterrichtsform. Es gibt ihn nur an Waldorfschulen, er fällt also aus dem Gewohnten heraus. Diese Unvergleichbarkeit hängt vor allem mit dem besonderen Bewegungsansatz der Eurythmie zusammen, der nur aus einem tiefen Erleben des Ätherischen zu verstehen ist.

Wir sprachen oben von dem ersten Widerstand des Irdischen durch die heutige Zeitströmung, der überwunden werden muss. Hinzu kommt, dass der physische Leib mit seinen Bewegungsgewohnheiten und seiner Steifheit dem ungewohnten ätherischen Ansatz der eurythmischen Bewegung Widerstand entgegensetzt, das heißt, das Geschmeidig-, Lebendig-, Durchlässig-Werden erst allmählich zulassen kann. Drittens setzt auch die Seele (der Astralleib) der vom Ätherischen ausgehenden Bewegung Widerstand entgegen, weil sie sich mit ihrem Bewegungsimpuls in allen physischen Raumesrichtungen ausleben möchte, ihre Kraft entfalten möchte, nun sich aber – vom Ich geführt – bewusst einstellen muss auf die ätherisch impulsierte eurythmische Bewegung, was als unbequem empfunden wird. Durch diese drei Widerstände wird im Unterricht eine permanente Kraftanstrengung gefordert, die nicht vergleichbar ist mit dem Sport- oder Gymnastikunterricht.

Hinzu kommen aber weitere Erschwernisse. Es sind die ätherischen Bewegungen des Kehlkopfes, aus denen Steiner die eurythmischen Bewegungen abgeleitet hat. Normalerweise darf der Eurythmisierende nicht zugleich sprechen, weil die durch Sprechen erzeugte (unsichtbare) ätherische Bewegung und die über das Hören angeleitete äußere Bewegung sich gegenseitig stören. Der Unterrichtende muss es aber tun. Das ist nicht nur anstrengend, sondern wird von Steiner auch als krank machend bezeichnet. Auch die Bewegung darf der Unterrichtende nicht nur für sich vollziehen, was ihn vielleicht heilen könnte. Er muss alle Kinder mit seinen Ätherkräften umfassen, was einen zusätzlichen erheblichen Kraftaufwand bedeutet.

Die eurythmischen Bewegungen sind immer begleitet von Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühlen, das heißt, der geistig-seelische Mensch hat mehr oder weniger bewusst immer Anteil an ihnen. Darauf hat der Unterrichtende besonders zu achten, dass die Bewegung nicht nur mechanisch, dumpf, schlafend, sondern seelisch-geistig aktiv ausgeführt wird. Dies erfordert waches Beobachten nicht nur der eigenen, sondern der Bewegungen aller Schüler. Diese während des gesamten Unterrichts geforderte Bewusstseinsanstrengung kommt zu allem Geschilderten noch hinzu.

Das Ziel all dieser Anstrengungen ist deutlich: Den Schülern eine lebendige beseelte Beweglichkeit zu vermitteln, für die sie sich erwärmen und begeistern können. Wir haben gesehen, dass die Hürden, um dahin zu kommen, hoch sind: Zuerst sind es die Widerstände der Zeit, des Leibes, der Seele, die zu überwinden sind. Dann aber müssen durch gleichzeitiges Sprechen und Eurythmisieren, durch das Abgeben der Ätherkraft für das Umfassen der Schüler und durch wache Aufmerksamkeit bei gleichzeitigem Bewegen starke eigene Kräfte eingesetzt, geopfert, verbraucht werden. So ist die Forderung Steiners – maximal zwölf Stunden – gut zu verstehen.

Es soll hier aber nicht einfach die Forderung Steiners erhoben werden. Wir wollen verstehen, wie er über die Sache gedacht hat und Verständnis wecken für die Arbeit der Eurythmie-Unterrichtenden: Vor allem dafür, dass sie eine längere Erholungs- und Aufbauphase dringend nötig haben, dass sie, wenn sie zusätzlich etwas tun, eigentlich für sich künstlerische Eurythmie ausüben sollten, um sich von dem kräftezehrenden Unterricht heilen zu können.

Für die Waldorfschulen ist es ein besonderes Geschenk, mit diesem heilenden kosmischen Impuls der Eurythmie verbunden zu sein. Die diesem Impuls hingebend dienenden Menschen verdienen unsere Anerkennung und unseren Dank.