Gedankenkontrolle wird zu Wahrheitsempfinden

Christoph Lindenberg

Von vielen Orten aus wird aufgepasst, dass die Leute ja das Rechte meinen. Die Zahl der verbotenen Gedanken in Wissenschaft, Politik und sozialem Leben ist groß, und wer gegen die Vorschriften verstößt, wird schnell ins Abseits befördert. Diese Gedanken- und Gesinnungskontrolle ist das Gegenbild geistiger Freiheit.

Die Beherrschung der Zunge

Dennoch: Ohne kritische Kontrolle gäbe es keine Technik, keine Wissenschaft. Auch eine Geisteswissenschaft, die zeitgemäß sein will, wird deshalb auf Selbstkontrolle nicht verzichten. Rudolf Steiner sprach von »Gedankenkontrolle« und meinte damit zuallererst die Kontrolle der Sprache. Der Sprecher soll sich fragen, ob er Notwendiges oder Überflüssiges sagt, ob er nur seine Meinung, das, was er schon immer meinte, zum Besten geben will, oder ob er eine neue Einsicht, die im Augenblick wirklich gefragt ist, mitteilen möchte. Wer etwas genauer auf sich Acht gibt, kann bemerken, ob Klatschsucht, Lust an der Selbstdarstellung, Bosheit oder Fanatismus seine Zunge in Bewegung setzt oder ob er anderen Sinnvolles, ja Förderliches zu sagen hat. Durch solche Selbstkontrolle lernt man sich selber besser kennen. Man beginnt zwischen jenem vom Selbst gelenkten und dem von allerlei Drängen und Trieben mitgerissenen Menschen zu unterscheiden. Und nach einiger Zeit beginnt man sich zu schämen, wenn man jenem unkontrollierten Wesen nachgibt und alles sagt, was es einem eingibt.

Beginn der bewussten Gedankenbildung

Bei der eigentlichen Gedankenkontrolle ist es sinnvoll, zwischen verschiedenen Arten von Gedanken zu unterscheiden. Da sind Gedanken, die man von außen aufnimmt. Unter ihnen gibt es große und ehrwürdige Gedanken, die man zum Beispiel aus guter Überlieferung aufnehmen und über die man lange nachsinnen kann. Unter den von anderen aufgenommenen Gedanken findet man wichtige Mitteilungen, findet man aber auch Hypothesen, und schließlich gibt es eine Unzahl von Halb- und Viertelsgedanken, von Gerüchten, Meinungen, positiven und negativen Vorurteilen, Verleumdungen und Preisungen.

Neben den von außen aufgenommenen Vorstellungen gibt es aber auch jene, die auf eigentümliche Art in Zuständen der Erregung oder Erschöpfung – zumeist in sprachlicher Form – aus den Untiefen unseres Seelenlebens aufsteigen. Solche unkontrolliert weiterrollenden Phantastereien scheinen harmlos zu sein, doch man muss ihnen Einhalt gebieten, denn namentlich in Phasen körperlicher Schwäche, in Konflikten oder depressiven Zuständen richten sie Unheil an. Man kann sie ganz einfach dadurch bekämpfen, dass man ihnen bewusst und gleichsam laut und deutlich widerspricht.

Schließlich gibt es Gedanken, die wir selber bilden. Zunächst im Erkennen. Wir bemerken ein Phänomen oder eine Reihe von Tatsachen, und eine Frage tritt in uns auf. Die selbst gestellte Frage ist der Beginn der bewussten Gedankenbildung. Wir verfügen nicht sofort über eine Antwort. Fragend suchen wir nach weiteren Erscheinungen, die uns über das Phänomen oder die Tatsachen aufklären. Manchmal treten Gedanken als Erklärungen auf, die wir abweisen. Wir haben das Gefühl, dass der Gedanke nicht »stimmt«, dass er zu starr oder zu schematisch, zu abgestanden oder zu simpel ist. Im weiteren Fragen und Tasten bildet sich jedoch manchmal schrittweise ein wirklich stimmiger Gedanke, der vielleicht erst als zusammenfassendes Bild auftritt, bevor wir ihn als Gedanken fassen können, der mit den Phänomenen harmoniert.

Das innere Durchprüfen der Gedanken kann sich auch anders vollziehen. Man steht zum Beispiel vor einem mora­lischen Problem. Man erlebt, dass man ein Ansinnen zurückweisen muss. Es tritt jedoch der Gedanke auf, dass man sich durch diese Zurückweisung unbeliebt macht oder ungünstig exponiert. Man stellt sich vor, welchen Eindruck die Zurückweisung auf Dritte macht. Man spürt jedoch zugleich, dass es bei moralischen Entscheidungen nicht in erster Linie um die Effekte der eigenen Handlungen auf mögliche Zuschauer geht. Das kann beunruhigen, schließlich ist man ja nicht allein auf der Welt, und man hat allen Grund, auf jene Stimme, die uns auf die anderen hinweist, zu hören. So lässt man sich etwas Zeit und am folgenden Tage kommt einem dann vielleicht ein Gedanke, wie dem Anliegen, das sich in dem Ansinnen ausspricht, doch geholfen werden könne, ohne dass man die eigene Haltung aufgeben müsste.

Sowohl im Erkennen wie auch bei moralischen Entscheidungen geht es in diesem Sinne um ein Abspüren und Abwägen: Wir achten auf unser Gefühl, auf den Zusammenklang der Gedanken. Jeder Gedanke kann ein Echo im Gefühl finden und auf dieses Echo können wir hören lernen. In der fünften Vorlesung »Über die Bestimmung des Gelehrten« bemerkt Johann Gottlieb Fichte: »Nämlich das Gefühl irrt nie, aber die Urteilskraft irrt, indem sie das Gefühl unrichtig deutet und ein gemischtes Gefühl für ein reines aufnimmt.« Das reine – also das weder von Vorurteilen getrübte noch von Absichten, Stolz, Ehrgeiz oder Stimmungen erregte oder gedämpfte – Gefühl kann ein empfindliches Organ sein, wenn es sich im inneren Gleichgewicht findet: Es spürt das, was uns begegnet, es erlebt unsere Verbindung mit der Welt.

So ist es möglich, bei Gedanken, die wir bilden oder aufnehmen, innezuhalten, sie auf uns wirken zu lassen und auf die Stimme des Gefühls zu achten und die Gedanken empfinden zu lernen. Zuerst wird man entdecken, dass es aufbauende und destruktive, leere und inhaltsreiche, bedeutende und kleinkarierte Gedanken gibt. Schließlich entdeckt man, welche Gedanken nur vom Schein des Wahren umgeben sind oder wo grau in grau Wesenloses fortgesponnen wird. Lernt man so Gedanken intensiv zu erleben und zu empfinden, dann können diese Erlebnisse einen zur Wahrheit der Verhältnisse und Wesen führen.

Für die Geistesschulung kommt es also darauf an, dass die ganze Seele zu einem Organ werde, das Wahrheit empfindet und aussprechen kann. Man muss nur lernen, zu lauschen, was die Seele durch das Gefühl dem Denken und Vorstellen mitteilen will.