Ein Volk lebt mit den Zwergen

Mathias Maurer

Vor tausend Jahren, als Island von den Wikingern besiedelt wurde, gab es keine Straßen. Man reiste auf Pferdes Rücken oder Schusters Rappen durch ein geologisch junges und wildes, kaum besiedeltes, von elementaren Naturgewalten beherrschtes Land. Seither rissen die Geschichten über das »versteckte Volk« bis in unsere Tage nicht ab: Rätselhafte Rettungen verunglückter oder verirrter Menschen, Unfälle, Plagen und Krankheiten, deren Ursachen man sich nicht erklären konnte, und unverhoffte, schockierende Begegnungen mit den Wesen aus einer Parallelwelt. Suchten die Betroffenen oder Neugierige die Orte des Geschehens wieder auf – es war nichts mehr zu finden – ganze Bauernhöfe hatten sich in Luft aufgelöst.

Anna Kvaran-Ragnarsdottir ist als Fremdenführerin auf Island unterwegs. Sie sagt, wenn man nicht mit einer angeborenen Hellsichtigkeit wie die bekannte Erla Stefansdottir zur Welt kommt, zeigten sich die Elementarwesen für den Menschen nur dann, wenn sie es wollen. Ragnarsdottirs Großvater gehörte zu den vielen Isländern, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Insel verließen. In Winnipeg, Kanada, verlor er seine gesamte Familie, worauf er zurückkehrte und – im Glauben, dass das Leben nach dem Tod weitergehe – eine Organisation für Geistesforschung gründete. Er reiste kreuz und quer über die Insel, sprach mit sogenannten Geisteskranken und erfuhr dabei viel über die andere Welt.

In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen die Landwirte, einige Elfenhügel einzuebnen. Es sollte sich rächen: Stürme verwüsteten die neuen Ställe mit samt den Schafen, Kühe wurden von unbekannten Krankheiten be­fallen, Häuser brannten nieder. Oder als in den 70er Jahren die Bauarbeiten an der großen Ringstraße Islands ausgesetzt werden mussten, weil Baumaschinen kaputt gingen und Bauarbeiter häufig verunglückten, schließlich ein riesiger Fels trotz massiver Sprengversuche nicht wich. An dem Fels­koloss fanden Spezialisten keinerlei Sprengspuren. Daraufhin wurde man vorsichtiger, denn die Nachteile bisheriger Ignoranz waren offenkundig. Die Ringstraße konnte erst weitergebaut und der Fels erfolgreich gesprengt werden, als ein Kundiger mit dem Hulduvolk einen Vertrag aus­handelte und ihnen drei Monate Zeit für ihren Umzug ließ.

Was sich wie eine Witzgeschichte anhört, ist landesweit Ernst. 20 bis 30 Prozent der Isländer glauben fest an die Elementarwelt, der Rest schließt sie nicht aus und respektiert sie. Keiner wagt es, keine Ölfirma, kein Bauunternehmen, sie zu ignorieren. Kein Menschenkind wirft einen Stein – es könnte ein Elfenkind treffen. Sammler aus dem Ausland schicken Pakete mit mitgenommenen Steinen aus Island zurück, weil ihre Pechsträhnen seither nicht abrissen.

Die Isländer haben daraus gelernt. Das zeigt sich nicht nur in der freien Natur, sondern auch in dicht besiedelten, urbanen Gebieten, wie zum Beispiel in Hafnafjördur, einer ehemaligen deutschen Ansiedlung, heute Vorort von Reykjavik. Die Straßen kurven um Elfenhügel oder verengen oder teilen sich plötzlich, Wohngebiete haben Lücken, wo Wohnstätten des Hulduvolks sind.

Anna Ragnarsdottir erzählt mir ihre Geschichte: Selbst passionierte Steinesammlerin, bekommt sie den Hinweis auf ein großes Kristallvorkommen in einem einsamen Quellgebiet in den Bergen. Sie findet die Stelle und als sie mit ihrem Hammer den schönsten Kristall abschlagen will, muss sie, zur Salzsäule erstarrt, mitten in der Bewegung einhalten. Schlagartig wird ihr der Frevel bewusst. Es dauert Minuten, bis sich die Starre löst und sie zusammenbricht, es dauert Stunden, bis sie wieder auf die Beine kommt. Sie entschuldigt sich inbrünstig für ihr Vergehen, umringt, wie sie sagt, von 30 bis 40 Gestalten, deren Anwesenheit sie spürt.

Sie macht sich stolpernd auf den langen Heimweg und fühlt sich die ganze Zeit verfolgt von einem Wesen, das sie nicht sieht. Sie dreht sich immer wieder um, schließlich ruft sie es mehrmals an, sich doch bitte zu zeigen, doch ohne Erfolg. Sie kommt wieder in bewohntes Gebiet. An einem Weidengatter verabschiedet sie sich. Dreht sich ein letztes Mal um. Nichts. An einem Bächlein unweit der Stelle hört sie ein helles Pling. Sie schaut in das Wasser und findet dort einen Kristall ... Solche und ähnliche Geschichten, sagt Anna Ragnarsdottir, haben in Island viele Menschen erlebt.

Die Frage, ob die Elementarwesen auch an dem isländischen Finanzcrash beteiligt waren, verneint Anna Ragnarsdottir, aber es gab eine eigentümliche zeitliche Koinzidenz: Einen Tag vor dem großen Ausbruch des Eyjafjallajökull wurden die Berichte zum Finanzdesaster veröffentlicht und es zeigten die riesigen Aschewolken mit den Kratern ein totenkopfähnliches Bild, das als »the evil face« um die Welt ging. Doch in erster Linie helfen die Elementarwesen den Menschen. Sie wehren sich nur, wenn man sie nicht respektiert und die Natur missbraucht.