Elementarwesen brauchen Menschen

Michael Birnthaler

Fragt man Schüler nach ihren Lieblingsfächern in der Schule, antworten nur sechs Prozent, dass dies Biologie, Physik oder Chemie sei. Auf die Frage, ob sie in diesen Fächern etwas Interessantes über die Natur gelernt hätten, antworten die meisten mit »fast nichts«. Es gibt aber auch eine Kehrseite der Medaille. So sehr die junge Generation ihr Interesse an totem Wissen über die Natur verliert, so sehr scheint sie eine Vorliebe für die spirituellen Aspekte der Natur zu gewinnen. Heute sind – laut der neuesten Shell-Jugendstudie – 22 Prozent der Jugendlichen zwischen zwölf und 25 Jahren davon überzeugt, dass sie von Naturgeistern und Engeln beeinflusst werden. Dies war vor 100 Jahren noch völlig anders. Damals wandten sich Landwirte an Rudolf Steiner mit der Frage, warum sich die Bodenqualität im Laufe der letzten Generationen so vehement verschlechtert habe. Dies war die Geburtsstunde der biologisch-dynamischen Landwirtschaft und einer neuen Hinwendung zu der Welt der Elementarwesen. Diese hätten sich für den Fortgang der Evolution und der Menschheit »hingeopfert« (Steiner). Sie seien als »verzauberte« Wesen in die Natur gebannt. Ihre Erlösung sei jedoch stark von der inneren Entwicklung des Menschen abhängig. Interessanterweise hat diese Entwicklung viel mit den Grundsätzen der Erziehung und der Waldorfpädagogik zu tun. 

Wer Elementarwesen spüren will, braucht ein Herz 

Sensible Menschen können bemerken, dass ein Spaziergang im Wald eine erfrischende Wirkung haben kann – aber nur in dem Maß, in dem man sich innerlich für die Natur zu öffnen vermag. Eine Erklärung dafür kann sein, dass ein gegenüber der Natur achtsamer Mensch von Elementar­wesen wahrgenommen und belebt wird. »Sein ganzes Leben hindurch auf der Erde lässt der Mensch aus der Außenwelt Elementargeister in sich hereinfließen.

In demselben Maße, in dem er die Dinge bloß anglotzt, in demselben Maße lässt er diese Geister einfach in sich hinein­wandern und verändert sie nicht; in demselben Maße, in dem er die Dinge der Außenwelt in seinem Geist zu verarbeiten sucht durch Ideen, Begriffe, Gefühle der Schönheit und so weiter, in demselben Maße erlöst und befreit er diese geistigen Elementarwesen«, sagt Steiner in einem Vortrag am 12. April 1909 in Düsseldorf. Er betont die pädagogische Dimension dieses Vorganges auf der Koberwitz-Tagung in Breslau am 9. Juni 1924: »Um etwas zu sehen, muss man ein Herz haben. Wenn man aber schon in der Volksschule verhindert wird, ein ganzer Mensch zu sein, sieht man nicht, was in der Natur ist.«

Den Pädagogen kann die bange Frage beschleichen, wie es mit den Kindern in der Gegenwart in dieser Hinsicht bestellt ist. Augenfällig ist, dass im Zeitalter der Medien, in der Generation der »digital natives«, die Sehgewohnheiten vor einem Bildschirm auf die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit gegenüber der Natur abfärben.

Angesichts der Not der Elementarwesen stellt Steiner in einem Vortrag, den er am 20. Januar 1923 in Dornach hielt, die emotionale Komponente der Erziehung in den Vordergrund: »Wir müssen ihnen [den Elementarwesen, d. Verf.] wiederum zurückgeben, was sie uns einst gegeben haben. Das können wir nur, … wenn wir das Bildhafte in den Naturwesen suchen, das, was nicht nur totem Verstandes­urteile zugänglich ist, sondern was dem vollen Leben zugänglich ist, was der Empfindung zugänglich ist.«

Das heißt: Selbst ein »guter« theoretischer Biologieunterricht ist weniger hilfreich, als mit den Kindern eine erlebnis­reiche Wanderung in die Natur zu unternehmen.

Umgekehrt: Ein mit Begriffen überladener Gartenbau­unterricht ist weniger förderlich als ein anschaulicher, phan­tasievoller und die Herzen der Schüler ansprechender naturwissenschaftlicher Unterricht. Entscheidend ist, ob es gelingt, über das bloße Anstarren der Natur hinaus in empfindendes Erleben zu kommen. 

Der Fleiß der Menschen kann Elementarwesen erlösen 

Eine weitere menschliche Tugend kann Elementarwesen befreien: Es ist der menschliche Fleiß! »Wenn der Mensch träge, faul ist, wenn er sich gehen lässt, dann wirkt er auf diese Elementarwesenheiten … anders, als wenn er schaffenskräftig ist …«, sagt Steiner in der erwähnten Düssel­dorfer Vortragsreihe.

Auch diese Eigenschaft ist wiederum eine pädagogische Kardinaltugend. Denn obwohl der Fleiß kein dezidiertes Erziehungs- oder Bildungsziel der Schulen darstellt, stellt die Schule schlechthin den eigentlichen Rahmen dar, in dem ein junger Mensch Fleiß oder Müßiggang vermittelt bekommt. Nicht zufällig wurde deshalb an den Waldorfschulen von Anfang an in den Mittel- und Oberstufen eine Vielzahl handwerklicher Fächer eingeführt. Oder auch die Praktika. Dabei erfährt der Schüler vor allem die Bedeutung der Arbeit und des Fleißes. Denn neben der »Gottesliebe« ist es die »Werkliebe, die Arbeitsliebe, die Liebe zu dem, was man auch selber tut«, die im Heranwachsenden pädagogisch zu verankern ist, konstatiert wiederum Steiner in einem seiner Dornacher Vorträge zur pädagogischen Praxis am 20. April 1923. Manch ein pädagogisch umstrittenes und – im Zeitalter der Life-Work-Balance – als antiquiert angesehenes Thema wie »Strebsamkeit«, »Hausaufgaben«, »Pflicht und Neigung« oder »Engagement« kann unter diesem Blickwinkel in einem anderen Licht erscheinen. 

Zufriedenheit hilft den Elementarwesen 

Eine dritte Tugend, um Elementarwesen aus ihrer Verbannung zu befreien, ist hochaktuell. Steiner beschreibt, wie der Mensch durch eine harmonische Weltempfindung, durch innerliches Befriedigtsein über die Welt, die Elementarwesen befreit und wie er durch Griesgrämigkeit, Verstimmtheit und Missmut sie fesselt.

In Anbetracht des horrenden Anstiegs von Depressionen, also der extremen Unzufriedenheit, bekommt diese Aussage Brisanz. Heute sind es nicht die körper­lichen Krankheiten, die die Hauptmasse der beruflichen Fehltage nach sich ziehen, sondern die psychisch bedingten – darunter vor allem das Burnout-Syndrom, das  zu einer Volkskrankheit geworden ist. Experten schätzen, dass etwa neun Millionen Menschen in Deutschland an Burnout leiden. Auch hier stellt sich eine pädagogische Aufgabe. Denn die menschliche Widerstandskraft, modern auch mit dem Begriff »Resilienz« umschrieben, ist nach Auffassung vieler Forscher das Ergebnis der Erziehung im Kindesalter. Das in (waldorf-) pädagogischen Kreisen bekannte Anlegen von gesunden Gewohnheiten, von das Leben prägenden Rhythmen, darf ebenso wie das Epochenprinzip als ein entscheidender Baustein für eine seelisch gesundende, saluto­gene Gemütserziehung angesehen werden. 

Echte »Frömmigkeit« befreit Elementarwesen aus ihrem Bann 

Eine vierte Eigenschaft des Menschen, die Elementarwesen aus ihrer Verbannung befreien hilft, hängt mit der Wertschätzung der Bedeutung des Jahresrhythmus und der Jahresfeste zusammen. Wenn »der Mensch die Winterzeit bis Ostern hin [durchlebt], erinnert er sich, dass mit dem Aufleben des Äußeren verknüpft ist der Tod des Geistigen, er durchlebt das Osterfest mit Verständnis: solch ein Mensch hat nicht bloß äußerliche Religion, sondern Religions-Verständnis für Naturprozesse, für den Geist, der in der Natur waltet.« Er befreit durch diese Art von Frömmigkeit die Elementarwesenheiten.

Auch die »Frömmigkeit« ist wiederum eine Eigenschaft, die  in der Erziehung und der Schule angelegt wird. Das vertiefte Miterleben des Jahreslaufes und der Jahresfeste kann im Elternhaus, aber vor allem  in der Schule gefördert werden. Besonders wirksam scheinen mir hierbei die Schauspiele zu den Festzeiten zu sein: vom Christgeburtsspiel, Weihnachts­spiel, Redentiner Osterspiel, dem Pan-Spiel zu Johanni bis hin zu den mancherorts ersonnenen Michaelispielen. Im Pan-Spiel zu Johanni, das leider nicht sehr weit verbreitet ist, steht die Erlösung der Naturwesen sogar im Mittelpunkt.

Allerdings stößt die Aufgabe, die Jahresfeste mit dem Gefühl der Frömmigkeit zu begleiten, heute auf zivilisationsbedingte Widerstände. Äußerer Rummel, Hast und Stress sind Einflüsse, die die Kinder veräußerlichen und »entfrommen«.

In der Gegenwart bringen viele Menschen den Wunsch mit, der Natur etwas »zurück zu schenken« und den Natur­wesen zu helfen. Für die meisten ist es jedoch überraschend oder befremdlich, dass dies nicht durch spezielle »Zaubersprüche« oder magische Rituale geschieht, sondern durch die Entwicklung bestimmter menschlicher Eigenschaften und Tugenden. Dies verweist auf die enorme Verantwortung, die ein Erzieher in der Gegenwart trägt. Denn sein pädago­gisches Geschick bringt nicht nur den Kindern, sondern auch den Elementarwesen Segen. 

Literatur:

R. Brämer et al.: Jugendstudie Natur 2010, Bonn 2011
K. Hurrelmann: Lebenssituation, Werteorientierungen und berufliche Einstellungen von Jugendlichen. Die Ergebnisse der 15. Shell Jugendstudie (2006), http://www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag4/down­loads/shell15.pdf
B. Baan: Der Herr der Elemente. Naturwesen in christlicher Sicht, Stuttgart 2006
M. Birnthaler (Hrsg.): Praxisbuch Erlebnispädagogik, Stuttgart 2010