Für viele Kinder sind Elementarwesen real

Erziehungskunst | Warum ist das Wahrnehmen von Elementarwesen (Naturgeistern) mehr als kindlicher Animismus?

Katharina Dreher-Thiel | Weil es die Naturgeister in der ätherischen Welt tatsächlich gibt. Das wusste nicht nur Steiner. Viele Menschen früherer Kulturepochen, bei uns bis ins 15., 16. Jahrhundert, konnten Naturgeister wahrnehmen. Mit beginnender Neuzeit und rationalistischer Denkweise verschwand diese Fähigkeit mehr und mehr. Wie in einem kollektiven Gedächtnis ist die Erinnerung an die Wesen der Ätherwelt in den Märchen und Sagen der Völker bewahrt. Heute scheinen die Wahrnehmungsfähigkeit für die ätherische Welt und das Interesse für Naturgeister wieder zu­zunehmen. 

EK | Spielen Zwerge, Elfen und andere Wesen noch eine Rolle in der Unterstufe?

KDT | Im Erzählstoff der Unterstufe, den Märchen, Sagen und sinnigen Geschichten spielen sie eine ganz zentrale Rolle. Diese wunderbaren Bilder erfüllen eine wichtige Aufgabe: Sie »ernähren« und strukturieren das Seelenwesen der Kinder. Da sich Kinder eigentlich immer mit Freude diesen Wesen öffnen, kann man pädagogische Anliegen auf diesem Wege wunderbar transportieren. Das funktioniert aller­dings nur, wenn die »Hottinger Zwerge« nicht auf dem Jahres­zeitentisch verstauben, sondern in Rituale und Gepflogenheiten des Unterrichts mit einbezogen werden und »leben« dürfen. 

EK | Inwieweit berücksichtigt der Lehrplan das kindliche Verhältnis zur Elementarwelt?

KDT | Kleine Kinder leben seelisch stark in ihrer Umgebung und sind weit mehr mit ihr verbunden als Erwachsene. In diesem träumenden Bewusstsein leben Gestalten der Märchen- und Sagenwelt und, bei entsprechender Offenheit, ist Kindern die Wahrnehmung von Elementarwesen möglich. Dieser Bewusstseinszustand wirkt im ersten und zweiten Schuljahr nach. Der Lehrplan trägt dieser Tatsache Rechnung durch die künstlerische Methode des Unterrichtens, wobei – wie zum Beispiel bei der Einführung der Buch­staben – die Bildhaftigkeit eine besonders wichtige Rolle spielt. Ein weiterer zentraler Faktor ist der bereits erwähnte Erzählstoff. 

EK | Äußern sich die Kinder zu ihren »übersinnlichen«  Wahrnehmungen?

KDT | Selten, da diese Wahrnehmungen für sie eben nicht übersinnlich, sondern völlig real sind. Außerdem haben sie oftmals die Erfahrung gemacht, dass sie mit Erwachsenen nicht darüber reden können. Ich hatte einmal das große Glück, mit meiner damals siebten Klasse ein offenes Gespräch über dieses Thema zu führen. Verschämt schmunzelnd berichteten sie von ihren Erfahrungen aus der Kindheit: Mädchen, die mit den Elfen einer Blumenwiese gespielt hatten, und ein Junge, der bei heftigen Fieberkrankheiten seinen Schutzengel sah und mit ihm sprach.

EK | Woran liegt es, dass diese Fähigkeiten im späteren Lebensalter verloren gehen?

KDT | Die Gefühlseindrücke, die die Schüler an den Märchen und Geschichten erlebt haben, sinken ab und geraten in Vergessenheit. Sie wirken aber weiterhin aufbauend und strukturierend im Seelenleben der Kinder. Viele Kinder verlieren die Fähigkeit, Naturwesen zu sehen, wenn sie zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr Distanz zu ihrer Umgebung und ein wacheres Bewusstsein für die Sinneswelt entwickeln. Andere werden sich in diesem Alter der Besonderheit ihrer Wahrnehmungen bewusst und gehen in aller Selbstverständlichkeit mit diesen Wesen um – jedenfalls berichten das Waldorfschüler damals und heute. Ich denke, dass durch die wachsende intellektuelle Beanspruchung auch gerade der Oberstufe die geistigen Wahrnehmungen eher in den Hintergrund treten, möglicherweise auch verschwinden. Im Erwachsenenalter kann allerdings diese Wahrnehmungsfähigkeit wieder aufleben. Sie verliert sich aber um so früher, je weniger diese Fähigkeit »ernährt« wird. 

EK | Wenn niedliche Zwerge und raubeinige Kobolde nicht mehr ziehen, wie erklärt oder weckt der Lehrer das Gefühl für Naturgeister?

KDT | Durch bildhaften, künstlerischen und phantasie­vollen Unterricht, in dem das Wesen des Unterrichtsthemas lebendig charakterisiert wird.

Wenn Pflanzen, Tiere, Persönlichkeiten und Zeiten, chemische Stoffe und physikalische Gesetze in ihren besonderen Wesenszügen lebendig charakterisiert und zum seelischen Erleben gebracht werden, empfinden die Schüler – unbewusst: Die Natur ist wesenhaft belebt.