Wer bestimmt, wer wir sind?

Ulrich Meier

In den vergangenen 100 Jahren hat sich im gesellschaftlichen Bewusstsein ein umfassender Wandel auf dem Gebiet des Reflektierens von Geschlechterrollen vollzogen. Welcher Druck wurde noch vor 50 Jahren auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene ausgeübt, um ihnen unmissverständlich deutlich zu machen, wie man sich als Mädchen und Frau oder als Junge und Mann zu verstehen und zu benehmen hätte! Einzig entscheidend dafür, wer man sein und werden konnte, war das biologische Geschlecht, aus dem sich die soziale Rolle und das persönliche Selbstverständnis abzuleiten hatte.

Hinzu kam die unterschiedliche Bewertung der weiblichen und männlichen Rolle, die sich aus der Tradition des Androzentrismus herleitet, eines Denkens, das über lange Zeiten einseitig den Mann ins Zentrum der Anschauung vom Menschen gestellt hat. In das Feld der als nicht hinterfragbar geltenden Geschlechterrollenidentität gehörte auch die sexuelle Ausrichtung auf das jeweils andere Geschlecht. Wurden sich Mädchen oder Jungen bewusst, dass sie sich von Angehörigen des eigenen Geschlechts sexuell angezogen fühlten, mussten sie mit Unverständnis und Ausgrenzung oder sogar mit juristischer Verfolgung rechnen.

Wie anders ist der Stand der Diskussion heute! Auf dem Titelblatt des Januarhefts 2017 von National Geographic ist folgende Frage zu lesen: »Ein Heft rund um Gender – Müssen wir Mann und Frau neu denken?« Mit dem aus dem Englischen übernommenen Begriff Gender wird seit den 1950er Jahren – in Deutschland ab 1975 – das sogenannte »soziale Geschlecht« bezeichnet. Auf diese Weise wird in den Sozialwissenschaften nach einem Ausdruck für die durch Gesellschaft und Kultur geprägten Geschlechtseigenschaften einer Person in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht gesucht. Der Fortschritt des Individualismus im 20. und 21. Jahrhundert scheint immer neue Wege zu öffnen, Identitätsbildung außerhalb vorgegebener Standards und erzwungener Entscheidungen zu ermöglichen. Waren die zuerst diskutierten Veränderungen der Rollenfindung noch davon geprägt, dass Menschen mit einem biologisch weiblich oder männlich geprägten Körper sich mit der jeweils anderen Geschlechterrolle identifizierten (Transgender), so kommt nun auch eine Identität als Mensch außerhalb des üblichen (binären) Systems Männlichkeit/Weiblichkeit ins Gespräch (Agender).

Aber auch vielerlei mögliche Varianten des Übergangs und der Mischformen gehen aus dem differenzierten persönlichen Erleben von Identitätsfindung hervor. Hier werden auch die Fragen der medikamentösen und operativen Eingriffe immer offener diskutiert – ebenso wie die Möglichkeiten und Freiheiten sexueller Orientierung.

Von welcher Ebene aus gestalte ich meine Identität?

Dass für die Frage, was einen Mann zum Mann und eine Frau zur Frau macht, nicht einfach das angeborene Geschlecht Orientierung bietet, versteht sich heute schon fast von selbst. Der Leib dient vielmehr als eine Vorgabe unter anderen, um sich selbst seine Identität zu geben. Beziehe ich mich – ob ablehnend oder zustimmend – ausschließlich auf die körperliche Ebene, muss die soziale und seelische Komponente lange noch nicht als stimmig erlebt werden. Und wird nur zwischen der körperlichen und sozialen Seite der Geschlechterrollen unterschieden, ohne nach dem zu fragen, was aus der Mitte der Persönlichkeit selbst erwächst, geht es am Ende doch noch nicht um das eigentliche Ziel der Selbstbestimmtheit, das seit dem Aufbruch aus der Fremdzuweisung sichtbar geworden ist.

Zunächst ein paar Grundüberlegungen zum aktuellen Diskussionsstand, die sich mehr und mehr – und gegen erstaunlichen Widerstand – als »Common Sense« heraus­- kristallisieren. Als erstes sollte mit allen Mitteln demokratischer Kultur dafür gesorgt werden, dass niemand gegen sein tiefes Empfinden gezwungen wird, eine andere Identität oder sexuelle Orientierung zu leben, als ihm stimmig erscheint.

Danach ist jedoch auch noch das Folgende zu berücksichtigen: Bevor eine Hormonbehandlung oder eine Operation zur Korrektur leiblicher Gegebenheiten vorgenommen wird, ist zu fragen, ob der Ansatz zu der entsprechenden Entscheidung schon aus einem möglichst hohen Maß an innerer Freiheit hervorgegangen ist. Beides spielt im Umgang mit Kindern und Jugendlichen eine besondere Rolle – beginnt doch die Geschlechterrollenfindung bereits in der frühen Kindheit. Ein wichtiges Merkmal dieser Findungsprozesse sehe ich in der seelischen Verunsicherung und Offenheit der eigenen Existenz gegenüber, die sich scheinbar eindeutig entweder als weiblich oder als männlich manifestieren soll.

Ob das schon immer so war, darf bezweifelt werden. In der jüdisch-christlichen Kultur lassen sich mit der hebräischen Bibel diesbezüglich durchaus andere Wurzeln finden: Der Mensch der ersten Schöpfung erscheint dort in seiner Gottebenbildlichkeit männlich-weiblich, kennt demnach keine Notwendigkeit zur Differenzierung in Geschlechter – auf welcher Ebene auch immer.

Die entsprechende Stelle in 1. Mose 1,27 müsste wörtlich eigentlich so übersetzt werden: »Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; männlich-weiblich schuf er ihn.« Erst mit der Geschlechtertrennung innerhalb des zweiten Schöpfungsberichts (1. Mose 2) ist das anders geworden, indem der Mensch in dem bekannten Rippenbild buchstäblich entzweit wurde. Für jede Frau und jeden Mann bedeutet diese Trennung leiblich eine Reduzierung des ursprünglich Vollkommenen – eine Wunde der Einseitigkeit, aus der gleichermaßen Leid und Lust hervorgehen kann.

Zu dieser grundsätzlichen Unsicherheit passt das alte Bild nicht, das aufgrund der biologischen Verhältnisse bei der Geburt vermeintliche Sicherheiten schaffen will, nach denen das Neugeborene sich zeitlebens zu richten hätte.

Gerade in der Unsicherheit liegt die Stärke einer persönlich errungenen und immer wieder in Frage gestellten Identi­fikation mit männlich und weiblich konnotierten Eigenheiten. Daher könnte es zu einem Ideal pädagogischen Handelns werden, Kinder und Jugendliche in der Offenheit und Unsicherheit der Suche nach ihrer Identität unterstützend zu begleiten, statt ihnen ihre eigene Findung durch Vorgaben und Zuweisungen von außen zu erschweren, um ihnen ein scheinbares Gefühl der Sicherheit zu verschaffen. Die Frage bleibt jedoch noch zu beantworten: Wie wird das Ich frei, sich selbst seine jeweilige Identität hinsichtlich des biologischen und sozialen Geschlechts zu geben? Der Gender-Begriff führt hier entscheidend weiter, denn er fügt zum Blick auf die körperlichen Anzeichen eine zweite Ebene hinzu, in der »tief empfundene Identität« eine den individuellen Verhältnissen angemessenere Quelle des Selbstverständnisses als Frau oder Mann ermöglicht.

Nicht Venus oder Mars, sondern Mond und Komet

Bereits vor 100 Jahren haben Carl Gustav Jung und Rudolf Steiner Aspekte des Weiblichen und Männlichen hervorgehoben, die auf der Suche nach einer Identität in Freiheit noch einen Schritt weiterführen können. Beiden Anschauungen vom Menschen ist gemeinsam, dass die Polarität und Spannung des urtümlich Weiblichen und Männlichen in jedem Menschen vorhanden und aufeinander bezogen ist. Weder bleibt der Gegensatz einseitig auf unterschiedliche Individuen verteilt, noch wird er einfach aufgehoben oder nivelliert. Vielmehr bildet gerade die Unterschiedlichkeit der beiden Prinzipien ein schöpferisches Miteinander, das die Andersartigkeit als Anregung nutzt. C.G. Jung hat in seiner Archetypenlehre über das Gegensatzpaar Animus und Anima gesprochen. Es findet sich in der dem Unbewussten zugekehrten Seele von Mann und Frau. Über die Anima als die weibliche Seite der männlichen Seele heißt es bei ihm: »Jeder Mann trägt das Bild der Frau von jeher in sich …« Das Gegenstück dazu ist der Animus, eine Sammlung von unbewussten maskulinen Attributen und Potenzialen im Unbewussten der Frau. Auf der Basis der Tiefendimension solcher männlich-weiblicher Ergänzungen kann im inneren Reifeprozess der Individuation der jeweils gegengeschlechtliche Anteil integriert und eine Balance der polaren Archetypen gefunden werden.

Rudolf Steiner wendet in seinem anthroposophischen Verständnis des Menschen den Blick aus den Tiefen der Seele in die Höhen kosmischer Entwicklung. Überraschenderweise kommt er dabei nicht auf die Polarität von Venus und Mars, deren Zeichen bereits seit dem 4. Jahrhundert für die Bezeichnung von Mann und Frau verwendet werden. In einem Vortrag vom 5. März 1910 spricht er über »Die Geheimnisse des Weltenalls – Kometarisches und Lunarisches« (GA 118). Sein Grundgedanke ist, dass »das irdische Männliche und Weibliche aus einem höheren kosmischen Gegensatz herausgeboren« sei. Er sucht also bewusst nach einer Beziehung zwischen dem Mikrokosmos Mensch und dem Makrokosmos unseres Sonnensystems. Und er sucht nicht nach einer Allegorie oder einem Stoff, sondern nach einer Entwicklungsbewegung, einem Prozess. Zunächst betont er, dass Sonne und Erde auf die beiden Geschlechter keinen unterschiedlichen Einfluss haben. Beide befinden sich an einem Punkt der Entwicklung in der Verdichtung aus dem Geistigen ins Materielle, der als mittlere Menschenstufe bezeichnet wird. Kometen repräsentieren dagegen eine weniger verdichtete, der Mond jedoch eine stärker verdichtete Entwicklungsstufe.

Dass Steiner damit keine billige Typologie für die alte biologistische Definition von Mann und Frau liefert, mag aus dem folgenden Satz deutlich werden. Den Gegensatz von Kometen- und Mondenwirkung dürfe man sich »… nicht bloß so denken, dass dieser Gegensatz sich nur ausdrückt in alledem, was zum Beispiel Mann und Frau in der Menschheit ist, sondern wir müssen uns klar sein darüber, dass sozusagen männliche Eigenschaften in jeder Frau und weib­liche Eigenschaften in jedem Manne sind«. Welche Vorteile in einer solchen unterschiedlichen Verdichtung – in lösenden oder bindenden Prozessen – liegen können, erörtert er anhand beispielhafter Phänomene.

Nicht starre Identifizierung, sondern fließende Übergänge

Weder die Auflösung überkommener Gewissheiten, noch die auch in diesem Beitrag behauptete Polarität von Männlichem und Weiblichem muss zwangsläufig Angst, Abwehr und damit Diskriminierung auslösen. Das reiche Feld der Bilder weiblich und männlich genannter Geschlechter­rollen­­anteile bietet genügend »Stoff«, aus dem sich jede oder jeder von uns in verschiedenen biografischen Phasen und im Fließen identifikatorischer Bezüge immer wieder neu aus dem Zentrum seiner selbst bedienen, das heißt, verstehen kann. Es liegt auf der Hand, dass die leiblichen Vorgaben – auch wenn selbst diese anscheinend immer mehr Offenheiten aufweisen – weit stärkere Festlegungen bedeuten, als die aus dem beweglichen Geist immer neu bestimmbare Identität, die sich das Individuum anzieht. Welche Chancen bieten wir der Generation unserer Kinder und Enkel, wenn wir sie im Wandel ihrer Identitäten auch auf dem Gebiet der Geschlechterrollen wohlwollend und mit Humor genau die Erfahrungen machen lassen, die sie suchen und die dem Wachstum, der Reife und Weite ihrer Persönlichkeit zugutekommen!

Zum Autor: Ulrich Meier ist staatlich anerkannter Erzieher und Pfarrer in der Christengemeinschaft. Seit Herbst 2006 in der Leitung des Priesterseminars in Hamburg tätig.