Worte schaffen Welten

Sibylla Hesse

Wie wollen wir damit umgehen?

Immer Mitte März liegt der Equal Pay Day: Er markiert das Datum, an dem Frauen durchschnittlich das Gehalt erreichen, das Männer im abgelaufenen Kalenderjahr erhielten. Laut Statistischem Bundesamt beträgt diese Kluft im durchschnittlichen Bruttostundenverdienst in Deutschland 21 Prozent. So sieht die Realität 2017 aus, 68 Jahre nach Inkrafttreten von Artikel 3, Abs. 2 GG: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.«

Vielleicht sollten wir nach Ruanda schauen. Denn dort ist die Lücke zwischen den Geschlechtern deutlich kleiner – infolge politischen Willens nach dem Genozid von 1994, der zu Frauenüberhang geführt hatte und damit Ruanderinnen in verantwortliche Positionen brachte.

Bis unser Artikel 3 GG geschrieben werden konnte, war ein langer Weg zurückzulegen. In der Antike ließ sich die anständige Griechin auf der Straße nicht allein blicken, das galt als unzüchtig. Die gesetzesverliebten Römer sahen den Rechtsakt des Aus-der-Hand-Lassens – lat. »emancipatio« (ex + manus) – für Söhne vor, aber auch für die Ehefrau, die in der berufsbedingten Abwesenheit ihres Mannes bzw. als Witwe den kleinen Handwerksbetrieb weiterführen und so die Familie ernähren sollte. Die katholische Kirche zementiert(e) die Vormacht des Männlichen.

Als während der Französischen Revolution die »Droits de l’homme« verkündet wurden, sah Olympe de Gouges sich veranlasst, 1791 »Droits de la femme et de la citoyenne« zu verlangen. Ihren Aufruf, die Tyrannei des Mannes zu beenden, bezahlte sie mit dem Leben. Doch die Vorstellung, Frauen könnten vollwertige Menschen sein, war nicht mehr aufzuhalten. Die Suffragetten leiteten daraus um 1900 ab, Frauen möchten auch wählen dürfen. In Deutschland wurde es ihnen 1919 gewährt, den Britinnen 1928, den Französinnen erst 1945.

Lange Bremsspuren der Mentalitätsgeschichte

Diese Kurzfassung der weiblichen Emanzipation in Europa zeigt, wie beschränkt, aber hartnäckig die Vorstellungen vom »schwachen Geschlecht«, seinen Rechten und Fähigkeiten waren. Die Bremsspuren der Mentalitätsgeschichte sind lang und durch eine erste Bundeskanzlerin nicht schnell zu beseitigen.

»Gender« als gesellschaftliche Geschlechtsrolle meint zugeschriebene Stereotype, das heißt konkret, wie so eine durchschnittliche Frau beschaffen sei und zu agieren habe. Kommerzielle Interessen, die Kleidung oder Schulbedarf in Rosa und Hellblau vertreiben, unterstützen diese klischeehafte Geschlechtsdichotomie. Die Weiblichkeitskonzepte veränderten sich in den letzten Jahrzehnten jedoch beständig. Die Ausweitung femininen Verhaltensrepertoires wird von einigen Männern als Bedrohung empfunden und mit Abwehr beantwortet, wie man beispielsweise in den neurechten Bewegungen Pegida, Männerrechtler und im Dunstkreis der AfD beobachten kann.

Zu entgegengesetzter Einschätzung kommt, wer die binäre geschlechtliche Zuordnung als ein sprachlich vermitteltes, rein gesellschaftlich geprägtes Konstrukt wahrnimmt, durch das schon das Kleinkind in eine Rolle gezwängt wird.

Exklusion durch Worte

»Ein Mädchen klettert nicht auf Bäume« oder »Ein Junge weint nicht«: Rollenbilder werden nicht immer so plump wie in diesen Sprüchen aus den 1960er-Jahren vermittelt. Traditionen, Vorbilder und die Verwendung der Sprache prägen Kinder und Jugendliche. Wenn ich im Geschichtsunterricht vom mittelalterlichen Bauern spreche, liegt für die Vorstellungsbildung eine im Schweiße ihres Angesichts auf dem Feld schuftende Bäuerin nicht nahe.

Subtil bauen sich Begriffe auf, die sich zu einer Anschauung der Welt zusammensetzen. »Der König aber sprach …« – und die Königin hielt den Mund, wäre ein möglicher Subtext. Ob in den Basiskonzepten von Männlich- und Weiblichkeit(en) bestimmte Rollen oder Berufe vertreten sind, kann über ganze Biographien entscheiden. Astronautin werden? Schornsteinfegerin? Denn um einen Beruf ins Auge zu fassen, muss er als für mich zugänglich erscheinen – das heißt zunächst hörbar werden – und das fällt für weibliche Karrieren oft flach. Manchmal auch für männliche: Nicht nur die Aussicht auf schlechte Bezahlung führt dazu, dass wir so wenig Kindergärtner haben, sondern auch deren mangelnde Sichtbarkeit oder Erwähnung.

Meine ostsozialisierten Waldorf-Kolleginnen nennen sich »Lehrer«, weil in der DDR nur die männliche Form als Berufsbezeichnung üblich war – sozialistischer Gleichheitsgrundsatz – und die Lehrerinnen ja »mitgemeint« seien.

An der mangelnden Nennung ändert auch die Ehrung am Frauentag nichts: Noch vor ein paar Jahren stellte uns die in unserem aus DDR-Zeiten stammenden Schulhaus in Potsdam tagende Untergruppe der Partei »Die Linke« an jedem 8. März einen Blumenstrauß ins Sekretariat, aber das hat sich auch verloren. Gewerkschaften poltern dagegen mit dem Slogan, jeder Tag sei Frauentag.

Die Tücken geschlechtergerechten Redens

Wer sich um eine geschlechtergerechte Sprache bemüht, hat zusätzliche Arbeit: Durchgehend »Schülerinnen und Schüler« an- und auszusprechen verlangt Raum. Im Schriftlichen haben sich daher kürzere Formen ausgeprägt, etwa Schüler/innen oder SchülerInnen. Schüler(innen) geht gar nicht, denn das Eingeklammerte (sozusagen beiläufig Erwähnte) ist das Unwichtige, das man im Ernstfall auch weglassen könnte. In Teilen der pädagogischen Fachliteratur hat sich die Abkürzung SuS eingebürgert, gelegentlich flankiert von LuL für »Lehrerinnen und Lehrer«.

In letzter Zeit wuchs das Verständnis für Trans-Menschen und Intersexuelle, die sich der Geschlechterdichotomie nicht unterordnen wollen oder können. Im Schriftbild bot sich an, ihnen mit Schreibweisen wie Schüler_innen oder Schüler*innen Sichtbarkeit zu verleihen. Ein für manche angemessener Ausweg liegt in der Nutzung des substantivierten Adjektivs aus dem Partizip Präsens, wie es sich bei den »Studierenden« durchgesetzt hat. Die »Lernenden« klingen noch ungewohnt. Durch Vorschriften, wie Sprache zu benutzen sei, tut sich die Gefahr auf, dass ein Orwellscher Neusprech entsteht. Andererseits kann das an­dauernde Ausblenden von Gruppen im Umgang mit Geschlechtervielfalt nicht die Lösung sein. Ein Dilemma …

Wer diesem zu entkommen versucht, bildet Wortneuschöpfungen. So zum Beispiel Lann Hornscheidt, ehemals am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien (HU Berlin), mit Begriffen jenseits der Zweigeschlechtlichkeit. Der Vorschlag »Schreibecs« statt Schreiber/Schreiberin/… kann sich des Spotts sicher sein.

Sprache hat sich immer gewandelt

Manche Purist*innen wollen den Status quo der Sprache einfrieren und vergessen dabei, dass sie immer im Wandel bleibt. Jedes Wort wurde als Neologismus geboren, seine Schöpfung folgte dem Bedürfnis, Realität adäquat auszudrücken. Die Sichtweisen und Schwerpunkte wandeln sich und mit ihnen unsere Redensarten. »Weib« kann heute nicht mehr als neutral verstanden werden, »weiblich« dagegen sehr wohl. Durch Sprachwandel werden Wörter diskriminierend, z.B. ist »Sonderbehandlung« seit der NS-Zeit kontaminiert als Synonym für Judenvergasung und sollte m.E. nicht mehr gebraucht werden. Wer heute »Neger« sagt, ist Rassist*in; in Kürze wird die Berliner Mohrenstraße umbenannt werden dank der Hinweise postkolonialer Aktivist*innen.

Diesen Sprachwandel kann man/frau/mensch mitgestalten, so wie wir in der Wahl unseres nonverbalen Umgangs mit anderen Menschen unsere Umwelt prägen. Wie ich mich respektvoll meinen Mitmenschen gegenüber zu verhalten bemühe, so kann ich auch für sprachliche Nicht-Diskriminierung Sorge tragen. Das umfasst einen zumindest beide Geschlechter inkludierenden Wortgebrauch, etwa »Leserinnen und Leser«, oder die weitere Formen nicht-ausschließende Formulierung »Lesende«.

Wortgeklingel? Oder: Schwindet die Übermacht der alten weißen Männer?

Manch Lesendem/Lesender scheint dies nur Wortgeklingel zu sein. Besonders auf- und abfällig äußern sich hier alte weiße heterosexuelle Männer, die ihre Jahrtausende lang zementierte Spitzenposition zu verlieren fürchten. Ihr Gebaren – derzeit zu beobachten an den Macho-Attitüden der Herren Putin, Erdogan und neuerdings Trump – wirkt für unsere Schülerinnen unattraktiv. Übrigens auch für Schüler, deren Männlichkeitsbild in den letzten 25 Jahren, soweit ich wahrnehmen konnte, sich wandelt zu mehr Offenheit und Partnerschaftlichkeit. Die Vätermonate der Elternzeit bewirken in der geteilten Familienarbeit, dass zur verbalen Aufgeschlossenheit (»Na klar kann ich als Vater das Baby wickeln«) zunehmend auch die praktische Umsetzung tritt. Nur wenige unserer Schüler*innen haben den Mut, sich als schwul, lesbisch oder bisexuell zu outen. Hier könnte darauf verweisen werden, dass die eigene Sexualität oder sexuelle Orientierung Privatsache ist.

Andererseits fühlen sich diese Betroffenen in der Heteronormativität »falsch« und können dadurch Schaden an Entwicklung und Ausbildung der Identität nehmen.

Deshalb bedarf es der Vorbilder, wie sie die Politiker*innen Wowereit, Westerwelle oder Hendricks anbieten.

Außerdem sollten wir das Schimpfwort »schwul« ächten. Denn Art. 1 GG hält an der unantastbaren Würde des Menschen fest und verbietet damit jegliche verbale und soziale Exklusion.

Diversität passt zu Waldorf

In der Waldorfpädagogik steht das Individuum im Mittelpunkt. Nationalität oder Hautfarbe sind hier unwichtig und manche Waldorfschule praktizierte bereits die Inklusion »Behinderter«, als noch kaum jemand diese Vokabel kannte. Insofern passt Diversität zu uns, aber wir können sie noch stärker ins Bewusstsein heben. Auch in einer gender-­gerechten Sprache.

Zur Autorin: Sibylla Hesse ist Oberstufenlehrerin an der Waldorfschule Potsdam. Sie befasst sich seit über 30 Jahren mit Frauengeschichte.