Zukunftsperspektiven in Namibia

Erich Kunderer, Christian Bosse

In Namibia sind mehr als ein Drittel der Schulabgänger arbeitslos. Um sie mit dieser Situation nicht allein zu lassen, bietet die »Waldorf School Windhoek« ihren Schülerinnen und Schülern seit 2013 neben der allgemeinen Schulbildung eine berufliche Ausbildung an. Die Absolventen erwerben dadurch eine Doppelqualifikation. Das bedeutet, dass sie bei erfolgreichem Abschluss neben einem Universitätsstudium auch einen direkten Übergang in einen Beruf oder die Teilnahme an weiterbildenden Kursen wählen können.

Ursprünglich beinhaltete das namibische Schulcurriculum das Angebot praktischer Fächer wie Metall-, Holzarbeiten und Landwirtschaft. Bis Anfang 2000 gab es ein umfassendes Bildungsangebot. Nachfolgend setzte man auf die Einrichtung des rein akademisch ausgerichteten Cambridge-Systems und verzichtete zunehmend auf den praktischen Bildungsanteil. Mittlerweile wird nun wieder versucht, die berufliche Bildung an staatlichen Schulen zu etablieren, allerdings ist es schwierig, mit rein akademischem Ansatz Berufsbildung zu definieren.

Anerkanntermaßen hat die Waldorfschule mit ihrem breiten Angebot an künstlerisch-praktischen Fächern einen großen Vorsprung. Schon in der Unterstufe werden die verschiedenen Begabungen der Schüler gefördert und gepflegt. Was in den unteren Klassen zunächst spielerisch entdeckend ins Praktische umgesetzt wird, wird von den Mittel- und Oberstufenschülern dann gedanklich auf die Handlungsebene übertragen.

Die Schüler erhalten hier parallel zu ihrer waldorfpädagogischen Schulbildung eine praktische Ausbildung in folgenden vier Berufsfeldern: Landwirtschaft/Gartenbau, Tourismus/ Hospitality, Elektrik/Solarenergie sowie Büro/Einzelhandel. Die Ausbildung ist von der National Qualification Authority (NQA) zertifiziert und entspricht den in Namibia gültigen Ausbildungsstandards. Diese ist in Qualifikationsstufen unterteilt, die in allen Betrieben und Ausbildungseinrichtungen im südlichen Afrika anerkannt sind.

Die berufliche Bildung an der Waldorf School Windhoek ist in zwei Abschnitte gegliedert. In den Klassen 8 und 9 erhalten die Jugendlichen in allen vier Berufsfeldern zunächst eine umfassende Orientierung. Anschließend entscheiden sie sich für eines, in dem sie dann in den Klassen 10 und 11 an vier Nachmittagen pro Woche ausgebildet werden. Professionelle Ausbilder aus Handwerk, Handel und Industrie ermöglichen eine enge Verknüpfung von Theorie und Praxis. Diese Form der Berufsbildung wird auch von Industrie und Handel begrüßt, da sie sehr praxisorientiert ist. Übergeordneter Bestandteil der verschiedenen Fachrichtungen soll die Verbindung mit kaufmännischen Elementen sein. Die kaufmännische Bildung wird in Namibia bislang losgelöst von realen Berufszusammenhängen in rein akademischer Form angeboten.

Projektbezogene praktische Ausbildung

Ein wesentlicher Unterschied zum modulorientierten Curriculum der Namibia Training Authority (NTA) ist, dass die Lerninhalte projektbezogen angewendet werden. Die Schüler sollen den Zusammenhang von Warenbeschaffung, Produktion und Verkauf als kompletten Prozess erleben.

An einem konkreten Beispiel gezeigt, sieht das folgendermaßen aus: Der Müsliriegel, als Pausensnack an die Mitschüler verkauft, hat seinen Ursprung in der Aufzucht von Pflanzenstecklingen im Gewächshaus, verarbeitet mit weiteren Zutaten, deren Produktion mitverfolgt werden kann. Aus diesen Prozessen ergeben sich weitere Fragen der Schüler: Wie können wir mit den knappen Ressourcen Wasser und Humuserde umgehen? Wie können wir die reich vorhandenen Ressourcen Sonne und Wind sinnvoll nutzen? Für die Jugendlichen erschließen sich durch das Hereintragen nachhaltiger Ideen neue Handlungsfelder. Ein nächster Schritt könnte nun die Zusammenarbeit von »Gärtner« und »Solartechniker« sein.

Mehr Eigeninitiative ist nötig

Können wir mit unserem Modell einen Beitrag leisten, die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren? Um den Jugend­lichen eine Zukunftsperspektive zu zeigen, reicht es nicht aus, die Regierung und die Öffentliche Hand zur Verantwortung zu ziehen. Wir wollen mit unserem Projekt die Eigeninitiative und Selbstorganisation fördern sowie zu verantwortlichem Handeln anregen.

Gemeinsam mit den Lehrern, Ausbildern und der interessierten Elternschaft wollen wir erforschen, welches Potenzial in diesem Land und seinen Menschen steckt. Die Jugendlichen sollen selbstständig übend erkennen, wie der Weg in die Zukunft gestaltet werden kann.

Gründung einer Schülerfirma

Zur Einrichtung der beruflichen Bildung an der Waldorf School Windhoek brauchte es einen langen Vorlauf. Fragen nach einer Angleichung an das namibische Modul­system wurden betrachtet, Kompromisse erarbeitet. Wann soll mit einer Ausbildung begonnen werden? Ist hier in Namibia nicht eine viel stärkere und frühere praktische Ausrichtung notwendig, wo doch die Schüler in diesem Bereich ein handelndes Umfeld kaum vorfinden? Hinweise Rudolf Steiners zur Stärkung des Willens, zur Anleitung des Handelns, zur Selbstbestimmung veranlassten uns schließlich, eine geeignete Lernform zu finden, in der all das seinen Platz hat: eine Schülerfirma, bereits in der 6. Klasse. Mit allem, was dazugehört: Materialermittlung und -beschaffung, Preisberechnungen, Verfassen von Bestell- und Werbebriefen, Kontakte zu Liefer- und Verkaufsfirmen und vieles mehr. So gewinnen die theoretischen Unterrichtsinhalte einen praktischen Bezug.

Wir fingen mit der Produktion von Tischbesen an, die so schön gefertigt waren, dass zunächst Eltern darauf aufmerksam wurden und schließlich Tourismus­unternehmen, die sie in den Souvenirshops ihrer Lodges verkaufen.

Die künstlerisch gestaltete Nutzform ist das eigentliche Thema des Handwerks in der 6. Klasse. Die Klärung des Zwecks ist eine Verstandesfrage, die der Form weitgehend eine Frage der Phantasie. Hierin zeigen unsere Schüler ganz besondere Begabungen. Sie kommen an zwei Nachmittagen wöchentlich in die Werkstatt und arbeiten je zwei Zeitstunden.

Am Ende wird das Getane und Gelernte kurz reflektiert. Die Teilnahme ist freiwillig, aber nicht beliebig. Wer sich entschlossen hat, teilzunehmen, muss dies regelmäßig tun. Die Gesamtverantwortung liegt beim Lehrer, doch erleben die Schüler, dass das eigene Vertrauen und das des Lehrers in sie wachsen, je verlässlicher sie in ihren Aufgaben werden. Der Reinerlös geht schülergebunden auf das jeweilige Klassenkonto zur Mitfinanzierung der Klassenfahrt. Inzwischen haben die Schüler noch viele weitere Ideen, die sie in der nächsten Zeit umsetzen möchten.

Die Finanzierung unseres Projektes, insbesondere des Gebäudes für die Berufliche Bildung, wurde durch großzügige Spenden der Mahle-Stiftung, Software-AG-Stiftung und der Stadt Schwäbisch Hall ermöglicht. Zukünftig ist eine finanzielle Unterstützung der Namibian Training Authority vorgesehen. Trotzdem werden wir auch in Zukunft auf Spendengelder angewiesen sein.

Zu den Autoren: Christian Bosse lebt seit 2014 mit seiner Familie in Namibia und arbeitet dort als CEO an der Waldorf School Windhoek. Erich Kunderer ist Klassen- und Werklehrer an der Waldorfschule in Windhoek.

www.waldorf-namibia.org