Keine Identität ohne Sprache

Nurtac Perazzo, Marie-Luise Sparka, Gerrit de Jong

Eltern sprechen von Anfang an mit ihrem Kind, reagieren auf seine Kommunikationsangebote und kommentieren sie. Der Aufbau von Beziehungen wird durch die Sprache begleitet. Damit ist die Erstsprache eines Menschen ein wichtiger Bestandteil des familiären Bindungssystems. Das Kind erlernt durch seine Erstsprache nicht nur die Regeln, Normen und Werte, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Ursula Peukert von der Universität Münster, sondern »zugleich die ihnen zugrundeliegenden sozialen Konventionen« sowie die »in einem gesellschaftlichen System anerkannten und definierten Rollen und Positionen«.

Sprache ist vom menschenkundlichen Gesichtspunkt aus gesehen mehr als nur eine Kulturtechnik, die das Kind in seinen sozialen und gesellschaftlichen Rollen formt. Sie erfasst das ganze Wesen des Menschen, was Rudolf Steiner wie folgt ausdrückt:

»Wenn von der menschlichen Sprache die Rede ist, dann fühlen wir wohl hinlänglich, wie sehr die ganze Bedeutung und Würde und das ganze Wesen des Menschen mit dem zusammenhängt, was … als Sprache bezeichnet wird. Unser innerstes Leben, all unsere Gedanken, Gefühle und Willensimpulse fließen gleichsam nach außen zu unseren Mitmenschen hin und verbinden uns mit denselben durch die Sprache … Wer sollte es denn nicht wissen, wie der Mensch in Bezug auf sein Denken abhängig ist von der Sprache! … Und wissen wir doch auch wie der Charakter eines ganzes Volkes, das eine gemeinsame Sprache spricht, in gewisser Weise von dieser Sprache abhängig ist.«

Mehrsprachigkeit wird zum Normalfall

In unserer Gesellschaft stellen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund inzwischen einen hohen Prozentsatz der Bürger. Um die gezielte Förderung einer ausgeglichenen Mehrsprachigkeit durchzusetzen, sollte die Erstsprache der Kinder in der Schule als Standard- und Schriftsprache unterrichtet werden. Um die in der Mehrsprachigkeit liegende Ressource besser nutzen zu können, sollte die Förderung und Unterstützung im Kindergarten anfangen.

Zahlreiche Forschungen belegen, dass die stetig wachsende Gruppe von mehrsprachigen Kindern nicht dieselben kognitiven Lernfortschritte macht, wie ihre muttersprachlichen deutschen Mitschüler. Verfügen die Familien über keine oder nur geringe Ausgleichsmöglichkeiten in der Erstsprache, ist eine Verzögerung der kindlichen Entwicklung nahezu unvermeidlich, während die Identitätsbildung des Kindes unter Umständen ungünstig beeinflusst wird.

Welchen Stellenwert dabei die Sprache hat, beweist auch die neue, 2011 erschienene Längsschnittstudie der Münsteraner Germanistin Tabea Becker. Deren Resultate dürften auch für die pädagogischen Konzepte der interkulturellen Waldorfkindergärten und Schulen von Interesse sein. Darin heißt es unter anderem:

• Es bereitet normal entwickelten Kindern keine Schwierigkeit, zwei oder sogar noch mehr Sprachen gleichzeitig als Erstsprache zu lernen.

• Je intensiver der Kontakt mit der Zweitsprache ist, desto besser sind die sprachlichen Fähigkeiten in der Zweitsprache.

• Beim Lernen einer zweiten Sprache nutzen Kinder Strategien und Kompetenzen der ersten Sprache.

• Eine Förderung der ersten Sprache wirkt sich nicht negativ auf die Zweitsprache aus, unabhängig davon, zu welchem Zeitpunkt die Zweitsprache hinzukommt.

• Je weiter entwickelt die Erstsprache ist, desto besser wird die Zweitsprache gelernt.

• Das Kompetenzniveau, über das der Sprecher in der jeweiligen Sprache verfügt, kann sich nach unten oder nach oben und auch in der Relation der Sprachen zueinander ständig verändern.

Nicht nur die Zweitsprache und deren Pflege hat also eine fundamentale Bedeutung für die Gesamtentwicklung der Kinder aus Sprachminderheiten, sondern auch die Pflege der Erstsprache. Viele Angehörige der dritten Generation von Einwanderern kennen die Heimatländer ihrer Eltern und Großeltern oft nur noch von Urlaubsreisen, und häufig wachsen sie mit zwei Sprachen auf, ohne sich mit einer von ihnen identifizieren zu können. Akkommodation an die äußeren Lebensformen, an die sozialen Gewohnheiten und an die Rechtsnormen der Sprachmajorität sollte daher nicht als Assimilation verstanden werden. Das Fundament einer

gesunden Persönlichkeitsentwicklung kann nur in der Harmonie zwischen eigener kultureller Identität und der Wertschätzung und Offenheit gegenüber anderen Kulturen liegen – und nicht in einer kulturellen Entwurzelung.

Kulturelle Vielfalt – eine Chance für die Waldorfpädagogik

Die Zunahme kultureller Diversität stellt eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Die Waldorfpädagogik antwortet auf diese Herausforderung mit interkulturellen Kindergärten und Schulen. Diese Kindergärten und Schulen sollen benachteiligte, meist zur Sprachminorität zählende Kinder in unsere Lebenswelt eingliedern, ihnen soziale Teilhabe und Chancengleichheit ermöglichen und Zukunftsperspektiven aufzeigen.

Der Besuch des Kindergartens oder der Schule bedeutet für viele Kinder und ihre Eltern eine große Umstellung und Neuorientierung. Diese Situation kann zuweilen »sprachlos« machen und Angst zur Folge haben.

Dieser Angst können wir begegnen, wenn wir das Erlernen der Zweitsprache zu einem kreativen Prozess, zu einer lebendigen, respektvollen Interaktion machen. Sprachförderung und Sprachunterstützung findet auf vielen Ebenen statt. Dazu gehört der Austausch zwischen Pädagogen und Kindern im Alltag, der Austausch zwischen den Kindern und die Interaktion der Erwachsenen untereinander.

Um diesen Weg fundiert gehen zu können – gut gemeint ist nicht immer gut gelungen –, benötigen wir Langzeitforschung und wissenschaftliche Begleitung im interkulturellen Lernumfeld genauso wie interkulturell relevante Fachdidaktik oder die Möglichkeit einer Zusatzqualifikation für Lehrende und Erziehende. Denn oftmals sind Bildungseinrichtungen immer noch einsprachig ausgerichtet. Oft sind Fachleute, wie Kinderärzte, Lehrer, Sozialarbeiter und Erzieher nicht Experten für Zwei- und Mehrsprachigkeit und orientieren sich am Leitbild der Einsprachigkeit. Dadurch fühlen sich mehrsprachige Familien zuweilen nicht verstanden und respektiert. Eine Untersuchung an den Hamburger Schulen in den 1990er Jahren (Neumann/ Popp, 1993) hat gezeigt, dass sich die Familien und Lehrer in Bezug auf Sprache an unterschiedlichen Leitbildern orientieren.

Für die mehrsprachigen Familien gilt:

•Mehrsprachigkeit ist teilweise eine lange Familienerfahrung.

• Mehrsprachigkeit ist Alltagspraxis.

• Mehrsprachigkeit wird als Ressource betrachtet, auch für den Fall der Rückkehr ins Herkunftsland.

• Zweisprachigkeit ist eine positive Qualifikation.

Für die Lehrer gilt:

• Sie haben wenig Wissen über den Sprachgebrauch in den Familien.

• Oft stammt ihr Wissen aus zweiter Hand.

• Sie glauben, dass die Erstsprache nur verwendet wird, weil die Zweitsprache »Deutsch« nicht ausreichend beherrscht wird.

• Sie hängen einem Prinzip von Sprachtrennung an, das einsprachig orientiert ist, d.h.: Die Erstsprache für Zuhause und Deutsch in der Schule.

Einen bescheidenen Schritt in eine interkulturell ausgerichtete Sprachdidaktik, die die unterschiedlichen Posi­tionen verbindet, stellt das Sprachlernkonzept des Interkulturellen Waldorfkindergartens Hamburg-Wilhelmsburg dar. Es will die Sensibilisierung der Kinder für die Melodie und den Klang der Sprachen sowie die Wahrnehmung ihrer rhythmischen und lautlich-silbenhaften Strukturen unter fachlicher Anleitung fördern. Die sprachkünstlerischen Elemente bilden Brücken zwischen dem Erst- und Zweitsprachenerwerb im Sinne der ganzheitlichen Sprachförderung der Frühkindpädagogik, denn Kinder kommunizieren nicht allein durch die Sprache, sie kommunizieren mit all ihren Sinnen. Während Eltern und Kind im Gebrauch ihrer Muttersprache als Erstsprache bestärkt werden, wird der Wechsel zwischen den Sprachen als »normal« und gegenseitig bereichernd erlebt.

Ende dieses Jahrzehnts feiert die Waldorfpädagogik ihr hundertstes Jubiläum. Vielleicht gelingt es anlässlich dieses Datums, verstärkt zum Ursprung dieser Pädagogik zurückzukehren: einer Schule auch für die Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik. Diesem gesellschaft­lichen Auftrag gilt es heute als Teil der Waldorf-Identität wieder zurückzugewinnen. Ansonsten droht die Waldorfschule ein Verlierer zu werden, weil ihr der Bezug zur sozialen Wirklichkeit abhanden kommt.

Zu den Autoren: Nurtac Perazzo ist Dozentin am Waldorferzieherseminar in Berlin sowie Istanbul; Marie-Luise Sparka und Dr. Gerrit de Jong sind Gründungsmitglieder des Vereins zur Förderung interkultureller Waldorfpädagogik in Hamburg e.V.

Literatur:

Tabea Becker: Schriftspracherwerb in der Zweitsprache. Eine qualitative Längsschnittstudie einer Grundschulklasse von der Einschulung bis zum Übergang in weiterführenden Schulen, Hohengehren 2011; Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität, Stuttgart 1993; Ursula Neumann/Ulrike Popp: Spracherziehung in Migranten­familien«, in: Deutsch lernen, 1993, 18. Jg., Nr.1; Ursula Peukert: »Identitätsentwicklung«, in: J. Zimmer (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungs­wissenschaft. Bd. 6: Erziehung in früher Kindheit, Stuttgart 1985; Rudolf Steiner: »Die Geisteswissenschaft und die Sprache«, Vortrag vom 20.1.1910. In: Die Ausdrucksfähigkeit des Menschen in Sprache, Lachen und Weinen, Dornach 1979