Die globale Unterrichtsepoche

Erziehungskunst | Die Frage ist: Wie schaffen wir es, die Globalisierung bewusst zu gestalten? Oft steht der Konsument im Laden und kauft etwas, hat aber kein Bewusstsein davon, wie die Erdbeeren hier in diesen Laden gekommen sind.

Christoph Kühl | Das war einer der Gründe, warum wir eine Globalisierungsepoche eingerichtet haben. Die Historiker sprachen darüber, wie man es schaffen könnte, das Phänomen des globalen Wirtschaftens in den Unterricht hineinzubringen, und die Naturwissenschaftler, wie man es hinbekommen könnte, dass die Schüler ein Bewusstsein von der Erde als Gesamtorganismus bekommen.

EK | War diese Zusammenarbeit von Anfang an intendiert?

Elisabeth von Kügelgen | Nicht unbedingt. Als ich in der Oberstufenkonferenz das Thema aus geschichtlicher Perspektive darstellte, hakten die Naturwissenschaftler ein und sagten, das sei zu einseitig. Es müssten die Fragen nach den Rohstoffen usw., nach der Erde als Organismus mit hinzukommen. Wir arbeiteten daraufhin auf der Grundlage der Dreigliederung gemeinsam eine Epoche aus, die 2004/05 erstmals mit zwei Fachlehrern durchgeführt wurde.

EK | Inwiefern ist die Dreigliederung die Grundlage der Globalisierungsepoche?

CHK | Der Naturwissenschaftler an einer Waldorfschule schaut immer auf das Ganze der Erde. Ein Blick auf die Roh- stoff- oder Klimaverhältnisse zeigt, die Erde ist ein Organismus. Damit ist man sofort beim Dreigliederungsgedanken: Wo ist der Stoffwechselpol zu finden? Wo findet ein rhythmischer Ausgleich statt usw. Jeder lebendige Organismus ist dreigegliedert. Dann wird auch klar, warum die großen WTO-Abkommen (World Trade Organisation, Welthandelsorganisation) dreigegliedert sind: GATT, GATS und TRIPS – also der Handel mit Produkten, Dienstleistungen und geistigem Eigentum (Patenten). Der Gedanke der Dreigliederung ist auf allen Ebenen präsent: Das beginnt bei einer einfachen Pflanze und endet bei der Erde als Ganzes.

EK | Wie ist die Globalisierungsepoche aufgebaut?

EvK | Bewährt hat sich, die erste Woche vom Fachbereich Geschichte aus zu gestalten und grundlegende Informationen zum Welthandel, zur WTO, zum Wirtschaftsliberalismus zur Deregulierung zu geben. Es wird offensichtlich, wie die klassischen Industrienationen der Nordhalbkugel den Welthandel beherrschen, ca. 500 Großkonzerne 70 % des Welthandels tätigen und dafür sorgen, dass sich das Kapital bei ihnen sammelt und der Rest der Welt arbeitet und Rohstoffe herbeischafft. Unser Reichtum, unser Wohlleben ist der Arbeit und der Armut anderer in der Welt zu verdanken. Bei der sozialen Frage geht es also nicht um Hartz IV, sondern sie ist eine globale Frage.

CHK | Wir steigen zum Beispiel mit der Frage ein: Wo kommt die Jeans her, oder man fragt nach dem Zusammenhang von Arbeit und Einkommen, nach der kommunalen Wasserversorgung – um dann auf globale Zusammenhänge zu kommen.

EvK | Ich mache immer eine Zeitungswand und nehme am Anfang oder am Ende des Unterrichts Bezug darauf. Viele Schüler beginnen erst mit dieser Epoche überhaupt Zeitung zu lesen. Sie sind dann sehr überrascht, dass im Grunde jeden Tag etwas zum Thema kommt.

CHK | Der Schwerpunkt der zweiten Woche wird durch die Naturwissenschaften bestimmt. Es wird dann meist über das Wasser oder das Klima gesprochen. Eine weitere zentrale Rolle spielt die Landwirtschaft, der Boden, die Genproblematik. Eine Fülle von Themen, sodass unsere Hauptaufgabe eigentlich darin besteht, die Themen einzugrenzen.

EvK | In der dritten Woche wird es dann am interessantesten. Da bestimmen wir nach jedem Hauptunterricht neu, wer am folgenden Tag unterrichtet. Was wollen wir noch machen, was greifen wir auf, was vertiefen wir? Im Vordergrund steht das Gespräch. Die Schüler genießen es, wenn man als Kollege dabei sitzt, sich meldet, Fragen stellt. Dass man mit den Schülern auf Augenhöhe über die Probleme und Aufgaben spricht, das schätzen sie sehr. Und es ist einmal nicht von der Vergangenheit die Rede, sondern von der Zukunft.

CHK | Es ist ganz normal, wenn ich vorne den Unterricht führe, dass Frau von Kügelgen sich meldet und einen Beitrag gibt und andersherum. Es kann auch sein, dass man sich abwechselt und der gerade Dabeisitzende den Unterricht übernimmt. In der dritten Woche versuchen wir immer auch verschiedene positive Beispiele für die Globalisierung zu finden. Denn die Gefahr besteht, dass man die Probleme in den Vordergrund stellt und es einem nicht gelingt, die positiven Aspekte der Globalisierung zu sehen.

EK | Welches wären Positivbeispiele für die Globalisierung?

CHK | Die positiven Beispiele hängen immer mit einzelnen Menschen zusammen. Ob das jemand ist wie Abouleish in Sekem oder Patrick Hohmann, der in Indien und Tanzania Baumwolle nach Biorichtlinien anbaut, es sind einzelne Menschen, die etwas verändern. Und wenn die Schüler dann sehen, dass den Frauen in Mikrokredit-Projekten das Geld gegeben wird, weil diese verantwortlich damit umgehen, gewinnt man Einblick in Strukturen, die einem sonst verschlossen bleiben. Das macht den Schülern großen Eindruck. Auch dass durch solche Initiativen immer neue soziale und kulturelle Gemeinschaften entstehen.

EK | Können die Schüler den Transfer auf ihr eigenes Verhalten leisten? Sehen, dass sie auch etwas als Einzelne verändern können, wenn sie wollen?

EvK | Immer mehr Schüler interessieren sich für verschiedene Projekte und machen ein soziales Jahr oder gehen zu Ärzte ohne Grenzen. Ich weiß auch, dass für einige Schüler diese Epoche studienbestimmend war. Einer studiert zum Beispiel in London postkoloniale Strukturen, ein anderer war gerade einige Monate in Indien im Zusammenhang mit seinem Studium in Wien.

CHK | Eltern erzählen, dass ihre Kinder sie auf vieles aufmerksam machen. Sie beginnen dann zu bemerken, dass die Globalisierung schon beim Einkaufen anfängt. Denn der Verbraucher hat eine ganz wesentliche Funktion. Auch wenn die Experten sich darüber streiten, ob dieses Verbraucherbewusstsein ausreicht, um die Welt zu verändern. Aber es ist eine wesentliche Seite der Globalisierung. Und das bekommen wir als Rückmeldung auf den Elternabenden. Bis dahin, dass die Kinder sich über den Wasserverbrauch beschweren, der Mutter den Hahn abdrehen und sagen: Das kannst du heute nicht mehr bringen. Ob das nachhaltig ist, das kann man natürlich nicht genau sagen. Aber irgendwo muss man anfangen. Es ist ein Schritt, wenn die Schüler sehen, dass Nachhaltigkeit und Ressourcenbewusstsein etwas Zukünftiges ist und nicht etwas Altes.

EvK | Die Schüler erkennen, all das hat mit mir zu tun. Sie haben zwar schon viel gehört. Aber oft sagen sie dann: jetzt wissen wir wirklich, um was es geht, wie die Dinge zusammenhängen. Es ist eine Epoche, bei der die Schüler einen Erkenntnisgewinn haben. Vieles bleibt sonst nur in der Empfindung. Sie können sagen: Ich habe jetzt wirklich verstanden, wie man in diesem Geflecht drinsteht. Und sie merken auch, dass nicht nur alles schrecklich und undurchschaubar ist.

EK | Die Globalisierungsepoche ist beschränkt auf die drei Wochen in der zwölften Klasse. Gäbe es nicht noch mehr Möglichkeiten, die Schüler in die soziale Verantwortung einzuüben?

EvK | Ich habe vor zwei Jahren angefangen in der zehnten Klasse bei den alten Kulturen, wenn man die Sesshaftwerdung und Entstehung des bäuerlichen Kreislaufes bespricht, darauf hinzuweisen, dass wir heute da stehen, wo dieser Kreislauf, der Jahrtausende gültig war, endet. Und dann haben wir uns angeschaut, was heute passiert mit der Gentechnik. Und das ist außerordentlich gut angekommen.

CHK | Ich glaube, man müsste einen Weg finden, wenn man in der achten, neunten Klasse zum Beispiel in der Wirtschaftskunde in der Gegenwart ankommt, die Bilder zu erarbeiten, auf die man dann in der zwölften Klasse zurückgreifen kann. Das ist eine Aufgabe, die noch vor uns liegt. Zum Beispiel die Frage des Geldes, die eine der großen Herausforderungen unserer Zeit geworden ist. Das erfordert auch eine Vorbereitung und Grundkenntnisse, die man sich als Lehrer erst einmal erarbeiten muss. Es ist noch ungelöst, wie wir diesen Themenkomplex in der Oberstufe implementieren können. Ich habe den Gedanken, dass die Grundthematik der gesamten zwölften Klasse die Globalisierung sein könnte, denn jede Epoche steht unter diesem Gesichtspunkt.

EvK | Es ist sicher lohnend und auch notwendig, jede Epoche im einzelnen durchzugehen und zu schauen, wie wir ein noch stärkeres Bewusstsein davon entwickeln, wie die Epochen aufeinander aufbauen, Dinge vorbereiten und sich ergänzen. Denn viele Themen sind schon angesprochen, die man dann gut in der Zwölften aufgreifen kann.

EK | Wie lege ich eine lebenslange Empfindung an für Gerechtigkeit, Verantwortung, Gleichgewicht?

CHK | Da kommt man an moralische Fragen heran. Das ist schwierig. Man muss aufpassen, dass man keine Predigt hält. Ich muss wissen, dass ich als Lehrer in diesen moralischen Fragen ebenso drinstehe. Ich gebe die Epoche, ich steige in mein Auto und fahre. Und ich habe nicht nur komplett ökologische Kleidung an. So merkt man, dass man mit allem verflochten ist. Die Schüler haben ein instinktives Gefühl, was der Lehrer da vorne macht. Und eine moralische Frage kann nur dann wirklich ankommen, wenn der Schüler merkt, dass der Lehrer ein moralisches Bewusstsein hat und das ist bei keinem perfekt. Da kann man aber zum Beispiel dann sagen, was der Grund ist, warum ich in den Bioladen gehe. Mir geht es weniger um meine persönliche Gesundheit, als um Landschaftspflege und Erhaltung der Fruchtbarkeit der Böden.

EvK | Für mich war die Epoche der Anlass, einiges zu ändern. Ich musste meine Einkaufstour ändern, meine Bank wechseln, meinen Stromanbieter. Ich bin fast überall konsequent umgestiegen. Ich habe gemerkt, ich kann meinen Schülern nicht in die Augen schauen, wenn ich das nicht mache. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, ein Empfinden für diese großen Zusammenhänge zu entwickeln, zu erkennen, dass Gesundheit Gleichgewicht bedeutet und jeder Mensch in sich ein ganz individuelles Gleichgewicht hat. Das gilt auch im Sozialen, in der Landwirtschaft, im Handel, für die Erde als Organismus. Was muss geschehen, dass hier ein gesundes Gleichgewicht herrscht? Ausgleich.

In diesem Zusammenhang frage ich die Schüler: Warum hat der liebe Gott die Erde derart ungerecht eingerichtet? Die einen haben nichts, die anderen alles, die einen nur Wüste, die anderen üppige Vegetation, die dritten nur Öl. Es ist alles so ungleich eingerichtet, damit die Menschen teilen lernen und einander und die Erde wahrnehmen lernen. Denn wenn der Mensch das nicht tut, dann zerstört er seine Lebensgrundlage. Gestörtes Gleichgewicht ist Krankheit. Und das ist neben der Dreigliederung eines der Hauptziele der Epoche. Dieser Zusammenhang muss erlebbar werden. Dann brauche ich nicht zu moralisieren. Ziel der Epoche ist nicht, Stoff zu erarbeiten wie bei anderen Epochen. Hier ist wichtig, dass die Schüler nach der Epoche mit einem anderen Bewusstsein in der Welt stehen.

EK | Welche Ideale leiten die heutigen Schüler, die Welt zu verändern?

EvK | In den letzten Jahren hat durchaus eine gewisse Abschottung gegen die Probleme der Welt, gegenüber der notwendigen Verantwortung des Einzelnen für die Welt zugenommen. Ein Anspruchsdenken, Egoismus – auf ganz selbstverständliche Weise – herrschen vor. Das soziale Gewissen, das man früher nur anstoßen musste, damit es sprudelte und der Veränderungswille geweckt wurde, nimmt ab. Nicht böswillig, es ist der satte Wohlstand, in dem unsere Kinder aufwachsen. Aber dann gibt es auch immer wieder einzelne, auf die das gar nicht zutrifft. Ich hatte Schülerinnen und Schüler, die in Afrika ein Jahr unterrichteten, Unglaubliches leisteten. Eindrucksvoll. Aber das sind Einzelne. Deshalb ist uns die Globalisierungs-Epoche ein so starkes Anliegen.

Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer