Eine Frage der inneren Haltung. Integration im Kindergarten

Petra Plützer

Viktor ist ein Kind mit Down-Syndrom. Trotz seiner fünf Jahre kann er noch nicht verständlich sprechen und ist auch unsicher in seinen Bewegungen. Jetzt bleibt er stehen und beobachtet das Spiel des zweijährigen Janis. Der schmeißt mit leidenschaftlicher Begeisterung bunte Tücher in die Luft. Das kann Viktor auch.

Für kurze Zeit tauchen die beiden in ein gemeinsames Spiel ein. Als es zu Ende geht, nimmt die Therapeutin, Katharina Meseck, Viktor an der Hand. »Simon, ich brauche dich«, sagt sie zu dem großen Vorschuljungen, der gerade ganz verschwitzt vom Spiel aus dem Nebenraum kommt.

Simon freut sich, dass er jetzt mit Viktor in den Bewegungsraum gehen und mit ihm auf dem großen Trampolin springen kann. Ganz vorsichtig hält er Viktor bei den Händen, dieser jauchzt vor Vergnügen. Simon achtet gut auf Viktor und passt auf, dass er nichts macht, was ihn überfordern könnte.

Therapie ist Alltag – für alle

Der Goldberg-Kindergarten mit seinen drei Gruppen von je fünfzehn Kindern, davon fünf sogenannte Inklusionskinder, hat für jede Gruppe eine Sprach- und Bewegungstherapeutin zusätzlich.

Therapie wird auf diese Art und Weise etwas ganz Selbstverständliches, das sich in den normalen Tagesablauf einfügt und Kinder wie Simon spielerisch mit einbezieht.

»Viktor, geh mir mal aus dem Weg«, ruft Simon jetzt und springt von der Sprossenwand. Viktor sieht es mit großen Augen. Später im Wald wird sich Viktor wieder in sein eigenes Spiel vertiefen. Denn Simon spielt dann Superrakete mit seinen Freunden. Da kann Viktor nicht mithalten. Die sogenannten gesunden Kinder sind den anderen gegenüber zu nichts verpflichtet. Es sind die Erzieherinnen, die innerlich den Raum für alle zur Verfügung stellen. Denn die Kunst der Inklusion liegt in der eigenen, inneren Haltung. Die Kinderpflegerinnen und Erzieherinnen lernen sehr viel in der täglichen gemeinsamen Arbeit innerhalb der Gruppe von den Therapeutinnen. Sie beraten sich gegenseitig, können ihre Wahrnehmungen zusammentragen. Dadurch entsteht für die Kinder ein Rahmen, in dem jeder mit all seinen Besonderheiten seinen Platz finden kann. Hier werden Kinder, die einen besonderen Förderbedarf haben, nicht nur eingegliedert in eine Gruppe Gesunder, sie gehören ganz und gar dazu. Selbstverständlich und unauffällig wirkt die Hilfestellung der Therapeutinnen. Das Esstraining zum Beispiel findet beim Essen mit allen statt. Gelebter Alltag eben. »Warum kann Lars das denn noch nicht? Ich bin doch jünger als er?«, möchte die vierjährige Lea wissen, als die Kinder miteinander am Mittagstisch sitzen. Der körperlich behinderte fünfjährige Lars übt die Löffelhaltung, Uta Roosen, anthroposophische Sprachtherapeutin, hilft ihm dabei.

»Das ist halt so. Wir helfen ihm, damit er das auch bald kann«, sagt sie ruhig. Das leuchtet Lea ein.

Später, beim Aufräumen, faltet sie mit Lars ein Tuch, eifrig sagt sie den Spruch dazu auf. Doch mit dem Ergebnis ist sie nicht zufrieden. Lars kann die Ecken nicht ordentlich aufeinanderlegen. In einem passenden Moment löst die Erzieherin Lars ab. Der hat sich sichtlich erfreut am gemeinsamen Spiel, jetzt gibt er es gerne auf. Und Lea ist glücklich, die Arbeit jetzt ordentlich zu Ende bringen zu können.

Das scheinbar Einfache braucht einen hohen Bewusstseinsgrad der Erwachsenen, um allen Kindern den nötigen Seelenraum zur Verfügung stellen zu können. Erst dann kann Verschiedenheit zur Selbstverständlichkeit für die Kinder werden.

Im Goldberg-Kindergarten lernen die Kinder, dass das Menschsein viele Variationen haben kann. Die Erzieherinnen wünschen, dass ihre Arbeit in der Schule weitergehen kann. Sie sehen mit Hoffnung auf die Zusammenarbeit der Vereinigung der Waldorfkindergärten mit dem Verband für Heilpädagogik und den Waldorfschulen. Denn die Vereinigung der Waldorfkindergärten bietet den Rahmen für einen Zusammenschluss und für einen gegenseitigen Austausch der Mitgliedseinrichtungen. Die neue Kooperation der Verbände untereinander kann Fortbildungen anbieten und Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Waldorfpädagogik ist aus sich selbst heraus bereits Heilpädagogik und die beste Antwort auf die neu entstandene gesellschaftliche Diskussion über die Inklusion.

Petra Plützer ist freie Journalistin und arbeitet für die Vereinigung der Waldorfkindergärten in Nordrhein-Westfalen.

www.waldorfkindergarten-goldberg.de