Fruticultura – eine Freundschaft, die Früchte trägt

Valentin Ihßen

2007 entstand während des Englischunterrichtes der zehnten Klasse die Idee, am Ende des zwölften Schuljahres keine gewöhnliche Klassenfahrt zu machen, sondern einen Verein zu gründen – »Brasil09« –, um bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse in Brasilien zu helfen. Man wollte helfen – aber wie? Schließlich wollte man etwas aufbauen, das wirklich von Nutzen sein sollte und nicht ein Jahr nach der Grundsteinlegung als Denkmal des guten Willens nutzlos in der Gegend herumstehen würde! Die Klassengemeinschaft setzte sich mit »Kolping International« in Verbindung und erbat Unterstützung, um die Idee »Brasil09« Wirklichkeit werden zu lassen.

Die kleine Stadt Porto im Nordosten Brasiliens wurde von Kolping als Projektort vorgeschlagen und von den Sorsumern angenommen. Wenige Wochen später kam aus Porto der erste Projektvorschlag. Die Portoenser benötigten ein Jugendhaus. Die Pläne für das Jugendhaus und die Reise der gesamten Klassengemeinschaft nach Porto, um bei dessen Bau mitzuhelfen, wurden immer konkreter. Man bewarb sich bei Stiftungen um Fördergelder, nahm an Wettbewerben teil, verkaufte auf Schulveranstaltungen und Stadtfesten Cocktails, die gesamte Klassengemeinschaft arbeitete zugunsten von »Brasil09« und die Schulgemeinschaft fieberte mit. Im Herbst 2008 kamen erstmals acht brasilianische Jugendliche aus Porto an die Freie Waldorfschule Sorsum. Zum Abschluss ihrer Reise feierte die Schule gemeinsam eine »brasilianische Nacht«, mit Samba, Forró und Quadrillha.

Kurz darauf sagte die »Software AG Stiftung« ihre finanzielle Unterstützung zu. Damit war die Reise gesichert. Ende Februar 2009 reiste die damalige zwölfte Klasse nach Porto, um gemeinsam mit den brasilianischen Freunden das Jugendhaus »Centro da Juventude« zu errichten.

Die Landwirtschaftsschule »Fruticultura«

Jetzt, zweieinhalb Jahre später sitze ich mit zehn anderen Sorsumern am Frankfurter Flughafen. Ein zweites Mal ist es gelungen, die finanziellen Mittel für ein soziales Anschluss- projekt und den Jugendaustausch mit den Brasilianern möglich zu machen. Dieses Mal ist der Bau der Landwirtschaftsschule »Fruticultura« geplant, die durch die Aus- bildung der portoensischen Jugendlichen zur Verbesserung ihrer Zukunftsperspektive beitragen und ein Anreiz sein soll, nicht in die großen Städte wie Sao Paulo abzuwandern, sondern in Porto zu bleiben, um dort wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen.

Nach einer langen Reise kommen wir im Nordosten Brasiliens an. Wir feiern das Wiedersehen und besuchen während der nächsten Zeit sämtliche Institutionen der kleinen Stadt am Ufer des großen Flusses Parnaiba. Es gab Probleme beim Grundstückkauf, denn die Brasilianer haben es sich nicht zugetraut, das Grundstück für unser Vorhaben in Eigenregie auszusuchen. Deshalb besichtigen wir die zum Verkauf angebotenen Grundstücke, die sich für die Landwirtschaftsschule eignen könnten.

Unser Besuch hat direkte Auswirkungen auf die Grundstückspreise in Porto, die sich binnen weniger Tage verfünffachen, in der Hoffnung, dass wir als reiche Europäer den Preisunterschied nicht bemerken.

Nach etlichen Besichtigungen können wir endlich Hand anlegen, denn der Grundstückkauf ist unter Dach und Fach. Noch sind unsere ersten paar Hektar Land dicht von Palmen bewuchert und beim Abschreiten müssen wir darauf achten, nicht auf Skorpione, Vogelspinnen oder Schlangen zu treten. Wir arbeiten uns mit Macheten bewaffnet durch das Dickicht, um Platz zu schaffen. Als wir abends auf dem Heimweg sind, summt und zwitschert der Wald um uns und ein Schwarm Papageien fliegt über unsere Köpfe.

Zerstören, um aufzubauen?

Abends beim Essen herrscht betretene Stimmung. Sind wir nach Brasilien gekommen, um gemeinsam mit den Brasilianern etwas Nachhaltiges aufzubauen und dabei die Natur zu zerstören? Der Konflikt ist eindeutig. Wir wollen im kleinen unterentwickelten Porto etwas aufbauen, das es den portoensischen Jugendlichen ermöglicht, sich etwas Eigenes aufzubauen. Da die Stadt mitten im Wald liegt, muss dieser weichen, vorerst. Natürlich, unser Grundstück ist im Vergleich zum umliegenden Wald ein winziges Fleckchen Erde, aber geht es dabei nicht ums Prinzip? Schließlich gehört der gesamte Wald irgendjemandem und was, wenn alle Besitzer es uns gleich täten?

Es gibt keinen Ausweg, die Palmen müssen gefällt werden. Ist dies der klassische und scheinbar unlösbare Konflikt zwischen Natur und Zivilisation, bei dem so oft die Natur den Kürzeren zieht? Ja und nein! Um eine Landwirtschaftsschule aufzubauen, die über Anbauflächen verfügt und Jugendlichen Arbeitsplätze bietet, muss der Wald weichen. Doch was wir hier errichten wollen, sind keine Monokulturen. Wir wollen die Natur und den Boden nicht ausbeuten, sondern nutzbar machen und eine Kulturlandschaft entstehen lassen, von der Menschen wie Tiere profitieren. Geplant ist keine intensivierte landwirtschaftliche Nutzung mit Kunstdünger und Pestiziden, sondern ökologische Landwirtschaft.

Zum Ausgleich des entstandenen Schadens werden wir uns, zurück in Deutschland, im Naturschutz engagieren und finanziell am Schutz des brasilianischen Regenwaldes beteiligen, der zunehmend droht, Palmölplantagen zum Opfer zu fallen. Außerdem haben wir vor, auf einem Hektar des gekauften Landes den Wald unberührt zu lassen, um mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn wir nicht auf dem Grundstück arbeiten, werden wir von den Brasilianern vernichtend beim Fußball geschlagen, geben im Jugendzentrum einen Englischkurs, tanzen Quadrillha oder schlafen in unseren Hängematten.

Krisensitzung im Urwald

Unterdessen werden Strom und Wasser im Jugendhaus abgestellt, da die finanziellen Mittel fehlen und sich in Porto niemand so richtig für das verantwortlich zu fühlen scheint, was 2009 voller Euphorie entstanden ist. Wir arbeiten indes schon am nächsten Projekt. Es stellt sich also die Frage, ob das, was wir leisten, wirklich den Bedürfnissen der Portoenser entspricht und nachhaltig ist, wie wir uns das vorgestellt haben.

Eine Krisensitzung wird einberufen. Was sind die Probleme und wie lassen sie sich lösen? Nach einigen Momenten der Verlegenheit platzt es aus den Brailianern heraus. Es gibt Streit innerhalb der Gruppe. Viele fühlen sich von den anderen Projektteilnehmern übergangen und missverstanden. Unsere Diskussionskultur entspricht überhaupt nicht der der Brasilianer – es gibt Tränen und einige Brasilianer haben Angst, das Projekt könnte aufgegeben werden. Nachdem alle die Möglichkeit hatten, sich einmal vor allen Teilnehmern auszusprechen, glätten sich die Wogen und wir können zum nächsten Problempunkt kommen. Wie kann der Unterhalt des Jugendhauses gewährleistet werden? Es gibt die verschiedensten Ideen. Am besten finden wir den Vorschlag, durch Recycling von Plastik das Geld für Wasser und Strom zusammen zu kratzen.

Porto hat ein großes Problem mit der Abfallentsorgung. Da in Brasilien und insbesondere im unterentwickelten Nordosten des Landes die Verpackungsflut viel später einsetzte als bei uns in Deutschland, gibt es wenig Bewusstsein dafür, wie eine umweltfreundliche Müllentsorgung aussehen kann. Wenn in Porto die Müllabfuhr kommt, dann kehrt sie den Dreck zusammen, um ihn per Eselwagen in den umliegenden Wald zu karren und dort mehr oder weniger wahllos zu entsorgen. Natürlich, Porto hat wahrscheinlich Wichtigeres zu tun, als sich um Recycling zu kümmern, Armut und so, aber wenn wir Plastikmüll sammeln, könnten wir damit Strom und Wasser im Jugendhaus bezahlen, so viel Potenzial steckt in dem achtlos weggeworfenen Müll!

Nach einem Monat in Brasilien treten wir die Rückreise an. Wir haben nicht alles geschafft, was wir uns vorgenommen haben, aber den Eindruck, einem wesentlichen Konflikt der Entwicklungszusammenarbeit näher gekommen zu sein. Für die Zukunft gilt es, unsere Ziele nicht aus den Augen zu verlieren und gemeinsam mit den Brasilianern den Schwierigkeiten, die auf uns zukommen werden, mutig entgegen- zublicken. Im Sommer diesen Jahres kommt wieder eine Gruppe aus Porto nach Sorsum. Wir freuen uns sehr auf die gemeinsame Zeit!

»Wenn alle Jugendlichen der Erde die Erfahrungen und Eindrücke dieses Austauschprojektes erleben dürften, dann wäre unsere Welt bald eine andere.«

Raimundo Joao da Silva, Präsident Kolping Piauí/Brasilien