Ich mache kein Abi – ich gehe den Jakobsweg

Lina Meister

Winter 2012/13: In Greifswald gehe ich an einem Schild vorbei, das die Entfernung bis Santiago de Compostela zeigt. Der Jakobsweg – »Das ist nichts für mich. Ich hab’ keine Probleme, denke ich.«

Frühjahr 2013: Der Gedanke des Pilgerns lässt mich trotzdem nicht los. Ich suche meinen persönlichen Abschluss der Schulzeit, meine persönliche Reifeprüfung. Durch das Buch »Ich bin dann mal weg« von Hape Kerkeling wird mir deutlich, dass ich nicht unbedingt ein bedeutendes Problem brauche, um den Jakobsweg zu gehen.

Sommer 2013: Die Schulzeit ist beendet, das Projekt angekündigt, die Packliste existiert im Kopf und die Eltern harren der Dinge. Eigentlich müsste ich jetzt losgehen. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt, aufzubrechen, und wo beginnt die Reise? Alternative Ideen, Zweifel und Überlegungen, ob es nicht gerade Wichtigeres gibt.

Mittwoch, den 21. August 2013: Nach einer Diskussion mit meinem 97 Jahre alten Großvater gibt mir dieser seinen hart erkämpften Segen und schickt mich auf die Reise.

Donnerstag: Ich kaufe einen Rucksack und fange an, zu packen.

Freitag: Ich erhalte die Zusage für eine Mitfahrgelegenheit nach Südfrankreich.

Samstag: Ich verabschiede mich auf Facebook im Sinne Hape Kerkelings mit den Worten: »Ich bin dann mal weg.«

Ab Montag, den 26. August 2013: In Saint-Jean-Pied-de-Port stoße ich auf den Jakobsweg. Von Saint Jean sind es ungefähr 800 Kilometer nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens. Ich habe mir vorgenommen, den Hauptweg, den Camino Frances, zu gehen, den wohl bekanntesten der Jakobswege. Ich mache mich alleine auf den Weg. Einen Rückflug habe ich noch nicht, und falls ich nach zwei Wochen genug haben sollte, wäre es auch in Ordnung. Das Städtchen Saint-Jean-Pied-de-Port liegt noch in Frankreich, ein paar Kilometer vor der Grenze zu Spanien, die Pyrenäen vor der Nase. Von hier aus breche ich noch in aller Gemütlichkeit auf, um kurz darauf mit schmerzenden Beinen auf dem Boden der Tatsachen zu landen.

Auf dem Weg über die Pyrenäen, wo es nebelig und nasskalt ist, tut meine Hüfte nach zwei Stunden so weh, dass sich Regen und Schweiß mit Tränen mischen. Mein Rucksack ist viel zu schwer und gewandert bin ich vorher auch noch nie. »Die erste Etappe ist die schwerste«, sagten die Leute im Pilgerbüro in Saint Jean. 27 Kilometer mit 1.400 Höhenmetern.

Mir ist mittlerweile alles egal. Ich stehe mitten in der Pampa, befreit von sämtlichen romantischen Vorstellungen des Pilgerns. Zum ersten Mal frage ich mich: »Was mache ich hier eigentlich?« Ich komme dank meiner Mitpilger doch noch in der Herberge an. In den nächsten Tagen laufe ich mit den Rentnern oder jenen, die am ersten Tag auch jubelnd ins eiskalte Wasser gesprungen sind. In der ersten großen Stadt schicke ich alles Überflüssige nach Hause. Darunter auch den Reiseführer, denn der Weg ist gut ausgeschildert. Nur das Nötigste behalte ich: zwei Hosen, einen Pulli, ein paar Schuhe. Das einzige Teil, das ich wirklich vergessen habe, ist das Aufladekabel fürs Handy. Ich steige also auf Postkarten um und bin somit nun endgültig auf mich gestellt.

Mal allein, mal ins Gespräch vertieft

So wie sich die Landschaft ändert, verändert sich auch das Gehen. Mal wandert man, mal marschiert man oder streift übers Land. Mal allein oder ins Gespräch vertieft, plötzlich wächst man über sich hinaus und geht so weit wie nie. Und immer heißt es, keine Nacht am selben Ort zu verbringen und es gilt auszuhalten, nicht zu wissen, wo man abends ankommt.

Genau auf der Hälfte meiner Reise, zwischen Burgos und Leon bekomme ich eine Vergiftung durch unsauberes Trinkwasser. In der Nacht davor habe ich eine Freundin ins Krankenhaus begleitet, die das gleiche hatte. Auf dem Jakobsweg gilt: Wenn ich nicht gerade sterbe, muss ich um 8 Uhr aus der Herberge sein und ich denke: »Mir geht’s ja schon besser, ich lauf einfach mal los!« Einige Kilometer später sitze ich am Wegesrand, zu weit gekommen, um zurückzugehen und natürlich auf dem einzigen Stück des Jakobswegs, wo es fast 20 Kilometer durch die Landschaft geht, ohne ein einziges Dorf.

Mitpilger tätscheln mir den Kopf und sagen, es sei völlig in Ordnung, auf dem Weg auch mal zu weinen. Ich habe keine Kraft mehr zu erklären, dass ich nicht an einer akuten Heimwehwelle erkrankt bin, sondern kurz vorm Kollaps stehe. Noch etwas später sitze ich mit drei anderen Pilgern im Taxi zur nächsten Herberge: einem Ärztepaar aus Brasilien und einem holländischen Arzt. Wo die drei plötzlich herkommen, bleibt ein Geschenk des Camino, und es bestätigte einmal mehr den meist gehörten Satz: »Der Jakobsweg gibt dir, was du brauchst!« Keiner lässt zu, dass man vom Weg abkommt.

Begegnungen mit Menschen

Manchmal hupt mir ein Auto zu, wenn ich über Autobahnbrücken laufe. Spanier, die noch nie aus ihrem Dorf gekommen sind, laden zu Wein und Brot ein und überall hört man den Pilgergruß »buen camino« – guten Weg! Ich treffe Menschen aus aller Welt, denen ich immer wieder begegne, andere, mit denen ich nur ein paar Tage zusammen bin. Menschen, deren Lebensgeschichte ich kenne, bevor sie mir ihren Namen sagen. Menschen, die viele Jahre älter sind als ich, bei denen, genau wie bei mir, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Brasilianer, mit denen ich mich nicht verständigen kann, weil wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Einer von ihnen schenkt mir Schokolade. Damit ist alles gesagt.

Fast von Anfang an bin ich immer wieder mit einem Mädchen zusammen. Sie ist eigentlich mit einer Freundin unterwegs. Diese kam bei der Wassergeschichte leider nicht so glimpflich davon und musste nach Hause fliegen. Wir pilgern zusammen, mehrere Tage, bis wir uns in einem Dorf plötzlich verlieren. Paula ist einfach weg … In diesem Moment beschäftigt mich ein anderes Problem, denn mich plagen Bettwanzen, die man in den Herbergen bekommen kann, unabhängig, ob man ein guter Mensch oder ein sauberer Pilger ist. Wenn man Pech hat, ist man am ganzen Körper zerstochen und alles juckt. Ein Moment, an dem man die heiligsten Mitpilger grenzenlos fluchen hört.

Die letzten 100 Kilometer, die es durch Galizien geht, steige ich morgens in meine tropfnassen Schuhe. Mehr schwimmend als gehend komme ich 38 Tage nach dem Beginn meiner Pilgerfahrt in Santiago de Compostela, dem offiziellen Ziel meiner Reise, an! Zum ersten Mal bleibe ich zwei Nächte am selben Ort. Ich treffe viele meiner Pilgerfreunde wieder. Ich hole im Pilgerbüro meine Compostela, meine Urkunde, ab, die mich von allen Sünden frei spricht. In diesem Fall ist es mein Prüfungszeugnis – nebenbei von allen Sünden freigesprochen zu werden, ist bestimmt auch nicht schlecht. Ich frage mich: »Und jetzt?« – Ich wandere weiter zum Kap Finisterre (lat. Finis terrae, dem »Ende der Erde«). Am »Ende der Erde« und dem Ende meiner Reise verbrenne ich in guter Pilgermanier ein paar Klamotten im Sonnenuntergang.

Ich gehe in die Welt

Ein paar Tage später soll es mit dem Bus zurück nach Santiago gehen. Unentschlossen stehe ich mit gepacktem Rucksack am Hafen, ein bisschen unzufrieden, da die Reise sich dem Ende zuneigt. Auf der Hafentreppe rutsche ich aus und schneide mir die Hand auf. Mit blutiger Hand weiß ich nicht, wo ich hin soll, denn die meisten Pilgerfreunde sind schon abgereist. Ich beschließe, mich in ein Café zu setzen und zu warten, bis Paula kommt. Ihretwegen will ich noch bleiben. Ich habe sie noch nicht wieder getroffen, nachdem ich sie zwei Wochen vorher in einem Dorf verloren habe. Ich setze mich in das Café und warte keine fünf Minuten, bis sie vor mir steht! »Der Jakobsweg gibt dir, was du brauchst!« Ohne Reiseführer heißt es: immer der Nase nach. Ohne festes Zuhause wird die Welt zum Wohnzimmer. Ohne Handy spreche ich mit dem Menschen neben mir. Ohne Bus, Bahn und Auto komme ich nur so weit, wie meine Beine mich tragen.

Ich habe den Übergang von der Schule zum »Leben« bewusst und mit einer eigenverantwortlichen Reifeprüfung gestaltet.

»Ich schaue in die Welt« war lange jeden Morgen das Erste, was den Schultag eröffnete. Nach zwölf Jahren Waldorfschule heißt es nun anders:

Ich gehe in die Welt!

Ich gehe. Ich beschreite den Jakobsweg. Ich gehe in die Welt, aus meiner Schulzeit heraus in das, was nun kommt, hinein.

Autorennotiz: Lina Meister hat elf Jahre lang die Rudolf Steiner Schule Witten besucht und wechselte für das Orientierungsjahr zur Rudolf Steiner Schule Bochum.