»Im gegenwärtigen Bildungssystem sterben die Emotionen«

Jonathan Wolf | Erwarten Sie, dass die indische Regierung halten wird, was sie nach dem »Jan Satyagraha 2012« versprochen hat? Der Protestmarsch bildete den Höhepunkt einer mehrjährigen gewaltfreien Kampagne für Land.

Rajagopal | 2007 marschierten 25.000 Menschen nach Delhi. Die Regierung machte Versprechungen, die sie nicht erfüllte. 2012 waren es 65.000, die die Landreformgesetze forderten und die die Regierung zusicherte. 2014 sind Wahlen in Indien. Falls sie ihre Versprechungen nicht erfüllen wird, werden die Menschen wütend sein. Somit stehen unsere Chancen jetzt besser.

JW | Europäer sind häufig der Meinung, dass es schrecklich ist, was mit den Adivasis und Landlosen in Indien passiert, aber sie tun nichts, um die Situation zu verbessern. Vielleicht spenden sie einen kleinen Betrag, leben aber im Überfluss …

RA | Viele Menschen wissen nicht, dass es einen Globus gibt und alles zusammenhängt. Wenn manche Menschen zu viel konsumieren, haben andere nichts zum Konsumieren. Solange wir einen Lebensstil pflegen, der auf Ausbeutung der Natur und der Menschen beruht, wird die Zerstörung nicht aufhören. Heute sagen die Menschen: »Die Bedürfnisse sind unbegrenzt und die Ressourcen beschränkt.« Man sollte die andere Seite sehen und sagen: »Die Bedürfnisse sind beschränkt und die Ressourcen unbegrenzt.« Die Menschen müssen ihre Bedürfnisse einschränken, sodass es ausreichend Ressourcen für jedermann gibt. Es ist eine persönliche Agenda für jeden. Veränderung kommt nicht von außen, sie geschieht mit mir, in mir.

JW | Was halten Sie von unserem derzeitigen Wirtschaftssystem?

RA | Es ist an der Zeit zu begreifen, dass natürliche Ressourcen nicht so reichlich vorhanden sind, dass man sie noch viele Jahre auf diese Weise weiter ausbeuten kann. Nach Afrika oder nach Asien können Unternehmen aus der ganzen Welt kommen. Wenn sie in Deutschland schließen, kommen sie nach Indien. So schaffen sie Arbeitslosigkeit hier und Not dort für die armen Leute, weil sie sich Land und Ressourcen nehmen. Kapital an sich kann zwar gut sein, man darf aber nicht verrückt danach werden. Wenn man von etwas zu viel hat, hat man eine Krankheit. Gandhi sagte: »Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.« Ein auf den Bedürfnissen basierendes Modell wäre grundlegend verschieden, und ich glaube, wir müssen ein auf den Bedürfnissen basierendes Modell einrichten, sodass wir den Planeten nicht zerstören. Und schließlich müssen wir nach einem spirituellen Weg suchen, wie viel Geld wir brauchen. Andernfalls wird die Welt nicht überleben.

JW | Gibt es ein soziales System, das Sie befürworten?

RA | In einem Land wie Indien leben 70 Prozent der Menschen in Dörfern. Wir fahren sie vom Land in die Städte und sie leben dort in Slums. Ein gutes soziales System würde es den Menschen erlauben, in ihrer angestammten Umgebung zu leben. Auch in Europa gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit und viele junge Menschen möchten zurück aufs Land, aber es gibt keine Bauernhöfe mehr. Wir haben die Landwirtschaft zerstört. Und wir haben die industrielle Wirtschaft erschaffen. Alles soll wie eine Industrie aussehen.

Wir müssen den Menschen ermöglichen, in einer Umgebung zu leben, in der sie Arbeit haben und durch diese Arbeit glücklich werden. Arbeit und Glück muss es immer zusammen geben. Es gibt ein kleines Land in Asien, genannt Bhutan. Der König von Bhutan sagte: »Wir möchten hier kein Wachstum haben, wir werden unser Wachstum nur an Glück messen. Wenn die ganze Bevölkerung glücklich ist, wachsen wir. Wenn die ganze Bevölkerung unglücklich ist, wachsen wir nicht.«

Wie viele Menschen sind trotz des Kapitals unglücklich? Wie viele Menschen sind krank? Wie viele Menschen sind frustriert in Europa? Die afrikanischen und asiatischen Länder dürfen den Westen nicht imitieren, sonst zerstören sie ihre Ressourcen. Gandhi wurde gefragt, ob er möchte, dass Indien ein Land wie England wird. Wenn Indien ein England werden sollte, müsste es das ganze Universum ausbeuten. In Indien gibt es die Adivasis, die eingeborenen Völker. Jeder hält sie für unterentwickelt. Aber sie sind am weitesten entwickelt, sie konsumieren nur sehr wenig. Sie nehmen nur, was sie für heute brauchen. Sie häufen nicht an.

JW | Was halten sie von europäischer Bildung und Erziehung?

RA | Ich habe ein großes Problem mit der Art von Bildung, die es heutzutage gibt. Was lehren wir unsere Kinder? Wettbewerb! Was überwiegt in den Klassenräumen? Wettbewerb. Du musst stolz sein. Du musst schnell sein. Du musst Erfolg haben. Du musst ein großartiger Kerl sein! Das ist es, was wir unseren Kindern erzählen. Und Eltern sind glücklich, wenn ihre Kinder studieren, konkurrieren und stark werden, viel Geld verdienen. Bildung sollte dafür da sein, dass die Menschen erforschen, was in ihnen ist. Wenn Du Musiker werden willst, werde Musiker. Wenn Du Handwerker werden willst, werde Handwerker. Warum sollte jeder zu dieser wettstreitenden Welt beitragen? Das ist eine Art Militarisierung, weil alle sich gleich verhalten. Deswegen gibt es eine Trennung von Herz und Gehirn, die jeden Tag größer wird. Man will nichts über Armut und Probleme hören. Man möchte nur konkurrieren und Geld verdienen. So hat die Bildung große Probleme verursacht, große Gehirne und kleine Herzen. Die Emotionen dürfen nicht sterben. Ich glaube, im gegenwärtigen Bildungssystem sterben die Emotionen.

JW | Was bedeutet Mahatma Gandhi für Sie persönlich und für Ihr Leben?

RA | Was mich an Mahatma Gandhi inspiriert, ist sein Kampf für Gerechtigkeit. In einer gerechteren Welt wird es Gewaltlosigkeit geben, in einer gerechteren Welt wird es Frieden geben. Irgendwie musst du die Untersten und Ärmsten der Gesellschaft erreichen. Das tun wir in der Familie. Wenn das Essen in der Familie fertig ist, wird es der kranken Person als erstes gegeben, dann geben wir es dem Kind, nicht wahr? Dann wird es den Erwachsenen gegeben. Warum sollte sich die Gesellschaft nicht diese Philosophie aneignen?

JW | Was ist Ihr spiritueller Weg?

RA | Es gibt eine interessante Geschichte von Vivekananda. Einige Bauern trafen ihn und sagten: »Wir sind gekommen, weil wir nach Spiritualität suchen.« Vivekananda sagte: »Okay, über Spiritualität werden wir später reden. Was ist die Aufgabe der Bauern?« Die Bauern sagten: »Vergiss es. Sag uns, was Spiritualität ist.« Vivekananda antwortete: »Was macht ihr, um euren Lebensunterhalt zu verdienen?« Die Bauern sagten: »Du verstehst uns nicht. Wir sind gekommen, um die Spiritualität zu suchen, nicht, um über Bauern zu diskutieren.« Da sagte Vivekananda: »Schaut, meine Spiritualität ist anders. So lange auch nur ein Hund hungrig ist, ist es meine Spiritualität, nach Essen für ihn zu suchen.« Spiritualität ist der praktische Teil von Religion. Spiritualität ist dein Tagesgefühl für alle lebenden Geschöpfe, für Menschen, Tiere, Pflanzen, die gesamte Erde. Spiritualität sollte jeden Tag bessere Menschen erschaffen. Und du solltest durch deine Spiritualität ein besserer Mensch werden.

JW | Was können Europäer tun, um Sie zu unterstützen?

RA | Ich bekomme Unterstützung aus der ganzen Welt, von Menschen, die denken, dass unsere Argumente, dass der Prozess, den wir initiieren, allen Menschen auf der Welt helfen wird. Diese Solidarität ist sehr wichtig, weil man wechselseitig voneinander lernt. Die Milch produzierenden Bauern in Belgien kämpfen ums Überleben und wir haben uns entschlossen, sie von Indien aus zu unterstützen.

JW | Was sind Ihre zukünftigen Projekte?

RA | Momentan beschränken wir uns auf Indien. Aber es gibt Nachfrage aus Südasien, Afghanistan, Pakistan, Sri Lanka. Immer mehr Menschen müssen trainiert werden, mit Konflikten umzugehen. Unsere Erfahrung des gewaltfreien Handelns bringen wir zu Menschen nach Afrika, nach Amerika und auch nach Europa. Die jungen Menschen halten weltweit nach diesem Wissen Ausschau.