Indische Zeit tickt anders

Valentin Sagvosdkin

Orte, an denen Kinder toben, klettern, lachen, balancieren, schaukeln und einfach Kind sein können, sind wichtig, gleich, wo auf der Welt. Die Initiative »Swing for Life« setzte sich ein Jahr lang mit der Frage auseinander: Was brauchen Kinder in Nordindien für Spiel-Räume und wie wird eine Idee Realität? Konkreter werden unsere Vorstellungen erst auf einem unscheinbaren Stuttgarter Dachboden. Ein Haufen Bilder an den Wänden, Skizzen, Papiere und Stifte, Draht, Ton, Styropor: Die ersten Ideen nehmen Gestalt an. Alok Ulfat aus Indien ist dabei und erklärt die Wünsche und Nöte, aber auch die Stärken von Nanhi Dunya, jenen waldorfinspirierten Schulen in Nordindien, an denen das Projekt verwirklicht werden soll. Unser Plan: Zehn ehemalige Freiwillige der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners konzipieren und organisieren das Spielplatz-Projekt, um es am Ende mit den Lehrern, Schülern und Nachbarn vor Ort umzusetzen. Der Verein KuKuk-Kultur begleitet den Prozess mit dem nötigen Know-How und Fachleuten.

Spielen indische Kinder anders?

Es wird gezeichnet, gebastelt, überlegt, verworfen, gesponnen. Nach unrealistischen Utopien kristallisieren sich Elemente für zwei Spiel-Räume heraus – einer auf dem Land, einer in der Stadt, jeweils an den größten und bekanntesten Nanhi-Dunya-Schulen. Erreicht werden können damit Straßenkinder, Kinder aus vorwiegend armen Familien, mit und ohne Behinderung und Gehörlose vom Kindergartenalter bis zur 9. Klasse. Brauchen die Kinder in Indien einen Spielplatz? Haben die da nicht schlimmere Probleme? Diese Frage stellte sich allen Beteiligten immer wieder. Bernhard Hanel, Gründer von KuKuk-Kultur e.V., kann sie wie kaum ein anderer beantworten. Seit über zehn Jahren realisiert sein Verein Spielplätze in allen Teilen der Welt. Er sieht das freie Spiel als existenzielle Grundlage, als Voraussetzung für das Leben an: »Kinder brauchen ihren Erfahrungsraum, ihren Spielraum, in dem sie ihr Urvertrauen in die Welt einlösen können. Je mehr sie diese Erfahrungen machen, umso mehr können sie später gesund und verantwortlich mit der Welt umgehen.«

Es muss an vieles, an alles gedacht sein: Kostenplan, Projektbeschreibungen, Öffentlichkeitsarbeit, denn schließlich wächst das Geld für ein solches Projekt nicht auf Bäumen.

»Hier kannst du nicht planen. Die Dinge passieren einfach!«

Ein Jahr später sind die nötigen Gelder für die Materialien zusammengekratzt und es kann losgehen. Alle zahlen ihren Flug selbst und sind gespannt, denn für die meisten ist es ihre erste Begegnung mit der indischen Kultur.

In Nanhi Dunya laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren – Schlafmöglichkeiten, Essen, alles will gut vorbereitet sein. Die indischen Gastgeber kümmern sich aufopfernd um ihre deutschen Gäste. Dennoch prallen die Kulturen aufeinander: »Wieso wollt ihr zwei Tage vor Baubeginn die Materialien schon kaufen?« Die Projektgruppe muss lernen, was KuKuk-Kultur schon längst weiß: Dass indische Zeit anders tickt, und dass es möglich ist, erst einen Tag vorher alles vorzubereiten.

»Das Projekt Swing for Life hat mir gezeigt, dass man Sachen einfach tun muss, obwohl man sie für unmöglich hält«, erinnert sich die Projektteilnehmerin Agnès Stadelmann. Und Nanhi Duyna macht die Erfahrung, dass es möglich ist, zwei Spielplätze in nur zwei Wochen zu bauen.

Zwei Kulturen – eine Realität

Vor Baubeginn muss dennoch der richtige Rahmen geschaffen werden: Nach indischer Tradition wird ein Feuer entzündet, gebetet und gesungen, dann erst kann es losgehen. Das Gelände ist besichtigt und schon entstehen die ersten Löcher, neue Wege, Lehm wird gemischt, Bambus und Holz werden geschnitten. Einiges war vorher geplant, viele Ideen entstehen aus dem Moment heraus. »Das Projekt zeigt mir, dass Mut für das Neue gut tut, da sich die Dinge oft erst dann ergeben, wenn wir bereit sind zu handeln«, sagt Wendla Pahnke von der Projektgruppe. Schon nach kurzer Zeit steigen die Lehrer und die ersten Kinder begeistert ein, matschen im Lehm mit, bilden eine Kette, um Steine wegzuschaffen, spielen auf dem halbfertigen Baumhaus. Eine alte Frau schaukelt lächelnd und fünf Kinder auf einmal ziehen eine Schubkarre weg. Plötzlich sind Jugendliche aus dem Dorf da und packen mit an – alle machen die Erfahrung: Spielplatz-Bauen ist ein gemeinsamer Prozess, ein gemeinsames Schaffen. Manchmal vergisst man die Zeit, Freundschaften werden geschlossen, wir lernen von einander, obwohl man sich häufig nur mit Händen, Füßen und Zeichensprache verständigt. Es ist ein Projekt, bei dem über verschiedene Kulturen hinweg eine gemeinsame Realität entsteht. Nishant, ein engagierter indischer Helfer, brachte es auf den Punkt: »Swing for Life war eine großartige Heirat von Güte, Liebe, Frieden, Kunst, Kultur und Freundschaft.«

Zu Nanhi Dunya siehe auch »Erziehungskunst«, Februar 2012

Links: www.swing-for-life.com | www.kukuk-kultur.de | http://nanhidunya.jimdo.com