Mein kurzes Leben mit dem Tod

Anna Magdalena Claus

»Mit so einem komischen Gefühl werde ich wohl nie wieder einen Krawattenknoten binden«, denke ich und führe das breite Ende der dunklen Krawatte durch die Schlaufe. Fertig. Er sieht fein aus, wie er da liegt, in seinem besten Anzug und dem Rosenkranz um die blassen, gefalteten Hände. Vor einigen Stunden ist Diego im Alter von 62 Jahren verstorben.

Diego war nicht mit mir verwandt, wir waren auch keine Freunde. Trotzdem war mein Kontakt zu ihm in letzter Zeit sehr eng – ich habe ihn bis zu seinem Tod gepflegt. Der Grund dafür ist mein vierwöchiges Praktikum in einem Hospiz in Zürich. Ich kann nicht genau beschreiben, warum ich diese vier Wochen ausgerechnet mit todkranken Menschen verbringen wollte. Ich glaube, vor allem interessierte mich der Einblick in mir fremde Lebenssituationen. Während ich jung bin und für meine Zukunft tausend Wünsche und Pläne habe, endet das Leben für die Bewohner des Hospizes in absehbarer Zeit.

Für die Zeit nach dem Tod zu planen, traut sich keiner.

Ich stellte mir vor, dass Menschen, die kurz vor ihrem Tod stehen, einen außergewöhnlichen Blick auf das Leben haben. Diesen Blick wollte ich kennenlernen. Also stellte ich mich auf eine Zeit voller aufwühlender Situationen und tiefgründiger Gespräche mit den Kranken ein.

Tag für Tag lernte ich die Bewohner des Hospizes besser kennen und konnte mir durch die Patienten-Karteien, die auch mir zur Verfügung standen, ein Bild von ihrer Situation machen. In den ersten Tagen musste ich mich vor allem an die außergewöhnlichen Körper gewöhnen, die ich bei der Pflege sah und berührte. Ich erahnte den aussichtslosen Kampf, der bei fortgeschrittener Krebserkrankung zwischen Körper, Geist und Krankheit wütet.

Zu meinen anfänglichen Aufgaben gehörte es, Patienten zu wecken, ihnen beim Waschen von Gesicht und Oberkörper zu helfen und das Frühstück zu machen. Mit dem zunehmenden Kontakt zu den Patienten und dem Pflegepersonal merkte ich schnell, dass Sterbebegleitung keine Tätigkeit voller Trauer, Dunkelheit und Schwere sein muss.

Einige der vielen Strategien zum Verarbeiten der auswegslosen Situation funktionieren mit Humor. Trotzdem galt morgens, nachdem ich die Eingangstür des Hospizes hinter mir geschlossen hatte, mein erster Blick der großen Kerze, die im Erdgeschoss stand und nur brannte, wenn ein Bewohner des Hospizes verstorben war. Brannte die Kerze nicht, ging ich beruhigt in die Garderobe, um meine Arbeitskleidung anzuziehen und anschließend in den ersten Stock in das einzige Stationszimmer. Dort angekommen, las ich in den Patienten-Karteien, was die Pfleger der Nachtschicht über jeden einzelnen Bewohner notiert hatten.

Mit den Bewohnern des Hospizes kam ich gut ins Gespräch. Mit einer alten Dame redete ich viel über die Texte der Bibel, aus der ich ihr hin und wieder vorlas. Ein längeres Gespräch führte ich auch mit einer jungen Bewohnerin, Lisa, als ich ihr den Pony schnitt. Wir sprachen über Frisuren und darüber, dass wir beide bis vor zwei Jahren Dreadlocks hatten. Diese Unterhaltungen waren oft von einer unerwarteten Leichtigkeit und Einfachheit. Die Endlichkeit des Lebens und den nahen Tod thematisierte ich nie von mir aus und die Kranken kamen selten darauf zu sprechen. Eine Vermeidungsstrategie? Mangelndes Vertrauen zu mir? Vielleicht eine Mischung aus beidem. In meinen Augen aber vor allem eine Gelassenheit und Demut gegenüber dem Sterben, die mir, ich weiß nicht warum, richtig vorkam. Doch längst nicht alle konnten den Tod als Zukunftsaussicht akzeptieren. Natürlich nicht, denn der Tod bleibt ein ungewisser Zustand, dem wir nichts Vergleichbares zuordnen können, in einer Zeit, in der es auf die meisten Fragen per Mausklick eine befriedigende Antwort gibt.

Da war zum Beispiel Marcella, die Frau von Diego, die die schwere Krankheit ihres Mannes nicht wahrhaben wollte. Mehrmals wurde ihr vom Pflegepersonal gesagt, dass Diego in den nächsten Tagen sterben würde. Sie reagierte mit Anschuldigungen und Drohungen. Als ihr Mann dann verstorben war, erzählte sie mir unter Tränen, dass Diego nur wegen ihr krank geworden sei. Ich versuchte, ihr diese Gedanken auszureden. Erschöpft merkte ich, dass ich ihr nicht helfen konnte mit dem, was ich sagte. Angehörige wie Marcella zu betreuen, ist auch Aufgabe des Pflegepersonals und manchmal, wie in diesem Fall, eine große Herausforderung.

Nun ist Diego verstorben. Die Tür zu seinem Zimmer öffnet sich und einige Pflegerinnen und Pfleger betreten den Raum, auch aus der Verwaltung und der Küche des Hospizes sind Mitarbeiter gekommen. Gemeinsam stehen wir um das Bett des Toten, um uns nacheinander schweigend oder erzählend von Diego zu verabschieden. Um die Erlebnisse loslassen zu können, stelle ich mir einige Situationen mit Diego und seinen Angehörigen ein letztes Mal vor.

Ich stelle mir vor, wie ich an Diegos Bett sitze und über seine blutunterlaufenen Augen erschrecke, die er wegen seiner schlechten Blutwerte hat. Ich erinnere mich daran, wie ich ihm nichts ahnend eine Kurzgeschichte vorlese, die ich aus einem dicken Buch zufällig ausgewählt habe und wie diese ausgerechnet von einem Mädchen handelt, das aufgrund einer Vergiftung vor ihrem Tod aus den Augen blutet. Mein Herz fängt an zu rasen, wie ich mich an mein inneres Ringen erinnere, als ich überlege, diese Stelle mit der Beschreibung der blutigen Augen laut vorzulesen oder nicht. Ist es jetzt meine Aufgabe, ihm durch die Geschichte sein Schicksal zu erzählen? Ich kann nicht anders und lasse die zwei Sätze einfach weg.

Es ist vorbei, ich lasse die Erinnerungen los, so gut es geht. Gemeinsam mit den Anderen verlasse ich Diegos Zimmer.

Das Sterben verläuft so individuell, wie die Menschen verschieden sind. Von »sie durfte gehen«, bis zu »er musste sterben« kann man das Ableben eines Menschen sehr unterschiedlich ausdrücken. Was bleibt, sind die Fragen im Kopf, die sich nicht beantworten lassen. Oder gibt es einen vernünftigen Grund dafür, dass die 29-jährige Lisa an einem Hirntumor sterben musste? Nein, meiner Meinung nach gab es ihn nicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als Lisa anzuschauen, zu spüren, wie ich mich fühle, und mir zu sagen: »So ist das also jetzt.«