St. Louis. Die Stadt der zwei Gesichter

Jan Elm

An meiner Waldorfschule hatte ich bereits Erfahrung in dem Circus Calibastra gesammelt. Doch nun sollte ich Teil eines der besten Jugendzirkusse der USA werden, ein Jahr in verschiedenen neuen Gastfamilien leben, ein Jahr Familie und Freunde hinter mir lassen, ein Jahr in einem Jugendzirkus lernen, lehren und auftreten.

Überbleibsel der Rassentrennung

St. Louis, die einzige Stadt, an der man den Missisippi auf dem Weg nach Kalifornien in Zeiten des Goldrausches überqueren konnte, war noch vor 100 Jahren eine der reichsten und größten Städte der USA. Es gab sogar Planungen, St. Louis aufgrund seiner zentralen Lage, seiner Funktion als Handelsknotenpunkt und seiner Fortschrittlichkeit zur Hauptstadt der USA zu machen. Hier fanden die EXPO 1904 und sogar die Olympischen Spiele statt. Hier gab es nicht nur den größten Bahnhof weltweit, sondern auch die umsatzstärkste Tabakindustrie, die geräumigsten Lagerhäuser und gigantischsten Schuhfabriken Amerikas. Heute beherbergen die von einem privaten Unternehmen billig erstandenen alten Bahnhofshallen ein Hotel, einen riesigen Parkplatz und ein Einkaufszentrum inklusive Bootsverleih. Nicht zu vergessen das Flying Trapez Center, das unser Circus Harmony im letzten Jahr aufgebaut hat. Wo früher Reisende auf 22 Bahnsteigen auf ihre Züge warteten, schwingen sich heute Artisten durch die Luft der höchsten Bahnhofshalle, vorbei an einem Hard Rock Café und einem künstlichen See, um die Hände des Partners am anderen Ende im richtigen Sekundenbruchteil zu ergreifen. Der Fahrplan des nahegelegenen neuen Hauptbahnhofs mit nur noch zwei Bahnsteigen ist dagegen sehr überschaubar: fünf Züge täglich nach Chicago und zwei nach Kansas City. Das Tor zum Westen, wie St. Louis auch genannt wird, hat sich stark verändert. Konnte die Stadt der Missisippi-Dampfer im Jahr 1891 noch mit einem der ersten Hochhäuser protzen, ist heute nur noch wenig vom alten Glanz übrig.

St. Louis ist ein Überbleibsel der Rassentrennung. Gehe ich an einem Freitagabend durch die Innenstadt, begegne ich fast niemandem, noch viel seltener einem Menschen mit weißer Hautfarbe. Die meisten weißen Bürger sind seit dem Beginn der Civil-Rights-Bewegung in die Vororte gezogen. Nur noch knapp ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung von 1950 ist zurückgeblieben. Verlassene Häuserblocks, abgebrannte Ruinen und tausende Grünflächen sind das Resultat. Wenn ich mit dem Bus fahre, bin ich häufig der einzige weiße Fahrgast. Wer Geld hat, kauft sich ein Auto. Es klingt unglaublich, aber der öffentliche Nahverkehr in St. Louis ist ohne Übertreibung mangelhafter als in allen Entwicklungsländern, in denen ich bisher unterwegs war. Busse, die nicht kommen oder anhalten, sind alltäglich. Man gewöhnt sich schnell daran und nach einer kurzen Zeit regt man sich auch nicht mehr darüber auf, dass der nächste Bus erst in dreißig Minuten oder in einer Stunde kommt. Für Strecken, die man mit dem Auto in zwanzig Minuten zurücklegt, braucht man nicht selten mit dem Bus über zwei Stunden.

Man möchte wohl denken, dass sich seit der Civil-Rights-Bewegung viel getan hat. Man möchte wohl als Waldorfschüler denken, dass die Hautfarbe kein großes Thema mehr ist. Nicht so in St. Louis. Was die Diskriminierung angeht, mag sich Vieles verbessert haben seit dem Dred Scott Prozess im Jahr 1857, in dem das Höchste Gericht der Vereinigten Staaten in St. Louis einem befreiten Sklaven seine gesetzlich zustehende Freiheit wieder aberkannte. In einem Vorort von St. Louis passierte es im August 2014. Ein weißer Polizist feuerte sechs Kugeln in einen unbewaffneten Teenager. Michael Brown verlor dabei sein Leben und die afro-amerikanische Bevölkerung ihre Geduld, auf Gerechtigkeit zu warten. Als der weiße Polizist vor der dominierenden weißen Justiz sich auf Notwehr berief und freigesprochen wurde, brachen heftige Krawalle in den ganzen USA aus, die teils nur durch gepanzerte Fahrzeuge und Soldaten gestoppt werden konnten. Gerade einmal 11 Prozent der Polizisten Fergusons sind Afro-Amerikaner. Amnesty International bestätigt dazu noch den Verdacht einer ungerechten Justiz in einem Bericht, in dem es heißt: »Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder eines weißen Opfers die Todesstrafe bekommt, ist elf Mal höher als die Wahrscheinlichkeit für den Mörder eines schwarzen Opfers.«

Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass Diskriminierung und Rassismus überall existieren, nicht zuletzt auch in Deutschland. Je länger ich in St. Louis lebe, um so mehr wird mir klar, warum kein Aufwand für eine gute Integration der vor dem Krieg geflüchteten Menschen aus Syrien zu hoch ist. Das bestätigt auch die berüchtigte »Delmar Divide« (Delmar-Trennung). Man kann mit einem Stift eine gerade Linie entlang dem Delmar Boulevard ziehen und hätte die Stadt in überwiegend Arm und Reich, Afro-Amerikaner und Weiße geteilt. Leicht lassen sich über das Internet anhand der Postleitzahlen die sozialen Unterschiede und Einkommenshöhen bestimmen. An diesen Zahlen ist die Kreditwürdigkeit einer Person abzulesen, die hier über Bildung und Zukunftschancen entscheiden kann. Denn ein Studium wird nicht über Steuern finanziert, sondern kostet hier zwischen 100.000 und 300.000 Dollar. Dass St. Louis zu den zwanzig gefährlichsten Städten der Welt gehört, kann ich nicht bestätigen. Das mag aber auch daran liegen, dass meine Gastfamilie nicht in einem nördlichen Stadtteil, sondern neben einer der Top Ten Universitäten der USA in einer Privatstraße mit eigenem Sicherheitsdienst lebt. Es ist gut möglich, sein Leben in Wohlstand in den Vororten, in denen sich Villa an Villa reiht, zu genießen, ohne auch nur das Geringste von den Schießereien und der Armut der anderen Mitbürger mitzubekommen. Und so mag es auch manchem Bürger gar nicht aufgefallen sein, dass in seiner Stadt im vergangenen Jahr 188 Menschen ermordet wurden.

Eine Begegnung berührte mich besonders: Ich leitete ein Aufwärmtraining in einer Grundschule im Norden der Stadt, die wegen Geldmangel demnächst ihre Tore schließt. Dort fragte mich ein dünnes, kleines Mädchen mit ernster Miene: »Isst du jeden Tag?« Verdutzt bejahte ich. Ich fragte zurück, ob sie denn nicht esse. Mit leiser Stimme, auf den Boden blickend, als würde sie sich schämen, erwiderte sie: »Nicht jeden Tag. Manchmal haben wir nichts zu essen im Kühlschrank!«

Zirkus und verrückte Leute

Aber es gibt auch ein anderes St. Louis. Ich singe in einem der fortschrittlichsten und weltoffensten katholischen Chöre, den man sich vorstellen kann. Vor dem Gottesdienst gibt es Pizza, hinterher Schokoladenkekse, heiße Schokolade und Limonade am Lagerfeuer. Der Priester scheut sich nicht, offen mit seiner jungen Gemeinde über Suizid und Sex zu sprechen. Auf der Klarinette spiele ich in einer Synagoge Klezmermusik, in der die Rabbinerin in High Heels die Torah liest und jeden willkommen heißt, lerne Studenten von einer der besten Universitäten nach Harvard und Yale kennen, deren Gebäude mehr an eine gotische Burg als an ein Haus des Wissens und der Bildung erinnert. Ich werde in der deutschen Gemeinde begrüßt, die die deutsche Kultur höher hält, als irgendeine Gemeinde in Deutschland. Ich werde in einer jüdischen Gastfamilie willkommen geheißen, Holocaust-Überlebende, die mir ihr neues Auto für ein paar Tage anbieten, obwohl ich erst zum zweiten Mal zu Besuch bei ihnen bin. Und ich darf mich glücklich schätzen, in einem der erfolgreichsten sozialen Zirkusprojekte mitzuarbeiten

Circus Harmony hat von morgens bis abends, sieben Tage die Woche offen. Viele Schüler haben den Wunsch, professionelle Zirkusartisten zu werden. Dafür trainieren manche von ihnen mindestens sechs Tage die Woche. Erstaunlich viele von ihnen schaffen es auch und touren mit dem Cirque du Soleil um die ganze Welt. Aber auch schon die jüngeren Artisten sind in vielen Staaten der USA, in Kanada und sogar Israel unterwegs. Im Circus Harmony arbeite ich auch mit Schülern der Waldorfschule St. Louis zusammen. Die Schule liegt aufgrund der billigen Immobilienpreise in einem afro-amerikanischen Viertel, deren Einwohner nicht viel mit der Waldorfpädagogik anfangen können, was für Spannungen mit den »verrückten Leuten auf dem Hügel« führt. In den letzten Jahren ist St. Louis wegen des billigen Wohnraums zu einer lebendigen Stadt der Kunstateliers geworden. Immer mehr Künstler, aber auch kleine Start-Up Unternehmen finden hier ihren Wunschort.

Weitere Bilder und Erlebnisse aus St. Louis: america4advanced.wordpress.com

Zum Autor: Jan Elm ist 20 Jahre alt und war Schüler der Michael Bauer Waldorfschule in Stuttgart-Vaihingen.