Ein Jahresring in der Waldorfschule

Sven Saar

Zu Beginn des Schuljahres, am Ende des Sommers, weht noch ein Hauch Augustwärme durch den Schulhof, aber die Stimmung ist eine ganz andere als vor den Ferien. Ein neuer Anfang liegt in der Luft, der das Erbe des Sommers zwar mitnimmt, sich aber beschwingt in Richtung Herbst begibt. In vielen Waldorfschulen gehen die neuen Erstklässler durch ein mit Sonnenblumen geschmücktes Tor. Was für ein passendes Bild für ihre biographische Situation: Ihre Seele durfte groß und strahlend aufblühen in der durch Herzenswärme geprägten Kindergartenzeit. In den Kindern aber schlummern, zart gepflegt, bereits die Samenkörner. In den nächsten Wochen verwelken zwar die Blüten und der Kindergarten wird nach und nach vergessen, aber die Kerne gedeihen – bis sie sich eines Tages vom Blütenkopf lösen. Jetzt sind sie ganz in der Schule angekommen und es ist Michaeli.

Von Michaeli bis Weihnachten

Draußen weht der Wind schon manchmal ungemütlich und in der Schule wird der Blick auf die inneren Werte gelenkt. Der Mut, der nötig ist, um sich gegen die Kräfte der Dunkelheit zu behaupten, spielt in vielen Geschichten um Sankt Michael eine große Rolle. Im Rahmen der Michaeli-Feierlichkeiten kann das durch spielerische Elemente gezeigt werden, wie zum Beispiel im Durchlaufen einer von den älteren Schülern mit viel Phantasie angelegten Geisterbahn. Einige Schulen organisieren einen großen Arbeitseinsatz im Schulgelände: Büsche müssen zurückgeschnitten und die Wucherungen des Sommers beseitigt werden, damit die herbstliche innere Klarheit auch äußerlich Betonung erfährt. Es werden Feuer entzündet und Dornenranken gekappt und am Schluss setzt man sich gemeinsam hin und genießt die warme Suppe und das Gefühl, etwas bereinigt zu haben.

Allmählich ziehen Nebel auf und der Oktober neigt sich seinem Ende zu. Jetzt finden in vielen Klassen Rechen-Epochen statt, denn wenn es draußen trüb ist, kann es im Kopf leichter hell werden.

Am 31. Oktober ist Hallowe’en (All Hallows Eve)! Ursprünglich handelt es sich bei diesem Vorabend von Allerheiligen um ein keltisches Fest (Samhain), an dem der Verstorbenen gedacht wurde, die sich in dieser Nacht besonders nah an das Reich der lebenden Menschen herantasten dürfen. Die Kürbismasken im Fenster dienten eigentlich dazu, die bösen Geister abzuschrecken, für die der Schleier zur irdischen Welt eben auch dünner geworden ist. Die Grundgeste ist aber das Wertschätzen der Verstorbenen. Mit Kindern kann man um diese Zeit Blumenzwiebeln für das kommende Jahr pflanzen und ihnen am Bild der ausgetrockneten Zwiebel vermitteln, wie der Mensch durch seine Taten den entscheidenden Unterschied macht: Lasse ich die Zwiebel im Schrank, bleibt sie tot. Pflanze ich sie in die Erde, gebe ich ihr die Chance, sich zu entwickeln und das zum Ausdruck zu bringen, was in ihr schläft – ein nachhaltiges Bild unserer Beschäftigung mit jenen Menschen, die nicht mehr auf der Erde weilen und eine von vielen Möglichkeiten, Erdenleben und Seelenerleben miteinander zu verbinden.

In der Natur ist der November ein recht leerer Monat und man sollte ihn nicht künstlich zu füllen suchen. Die Martini-Festlichkeiten und vor allem der Laternenumzug sind lichtvolle Höhepunkte zu einer Zeit, in der die Tage spürbar an Kraft verlieren. Noch ziehe ich mich nicht – wie später beim Adventskranz – mit meinem Licht an den Küchentisch zurück, sondern gehe mutig mit ihm in die Welt. Elemente von Michaeli und Weihnacht dürfen sich in dieser Stunde begegnen und vereinen.

Endlich ist Advent! Kennen Sie das »Wann fängt die Adventsspirale an? Wir sind viel zu spät dran! Ziehst du die Kinder an? Wo ist meine Brille? Hast du den Autoschlüssel gesehen? Jetzt gibt es bestimmt keine Parkplätze mehr!«

War auch die Fahrt zur Schule bis zum Platznehmen auf den engen Bänken noch atemlos und stressig, so fallen doch in dieser intimen Stunde, mit dem wachsenden Licht, den leisen Liedern und Leierklängen, die Belastungen von der Seele und es wird ein neuer Atem gefunden. Kinder schaffen das in wenigen Minuten, aber auch uns Erwachsenen tut dieser Moment unendlich gut!

Zur Weihnachtszeit erstarken unsere Seelenkräfte spürbar am Erleben von Wiederholung und Bekanntem. Die Sterne am Fenster, die Lieder, die die Klassenzimmer in drei Sprachen erfüllen, die kleinen Rituale im Advent, die sich jede Waldorfschule erarbeitet hat und natürlich die Oberuferer Spiele – alles immer gleich und doch nie dasselbe! Einige Schulen entzünden in jedem Jahr die Adventskerzen am großen Kranz im Festsaal. Um ihn steht eine Schülergruppe, jede Klasse ist vertreten. Sie holen sich nacheinander von der großen Kerze das Licht in ihre mitgebrachten Laternen. Am Ende der kurzen Feier führen sie ihre Mitschüler zum Klassenzimmer zurück und entzünden die Kerze am Klassenadventskranz. Auf diese Weise begegnet sich die ganze Schule in einem stillen Moment und das Licht, eben noch aller Mittelpunkt, wird an die Peripherie getragen. Die Schüler nehmen die Rolle des Lichtträgers oft überraschend ernst. Ein breitschultriger Achtklässler sagte mir, nachdem ich ihm die Laterne in die Hand gedrückt hatte: »Endlich! Seit der ersten Klasse warte ich jedes Jahr darauf, dass ich auch mal Lichtträger sein darf. Und jedes Jahr waren immer andere dran. Ich hab’ schon gedacht, Sie hätten mich vergessen!«

Von Weihnachten bis Ostern

Um das Dreikönigsfest lässt sich in der Mittelstufe ausgezeichnet Sternkunde betreiben, nicht nur, weil man in Anlehnung an die Weisen dabei »im Bilde« ist, sondern auch, weil die frühen Nächte und klaren Fröste oft einen schönen, unverstellten Blick auf die Winterkonstellationen erlauben.

Im weiteren Verlauf des Winters setzen Mariä Lichtmess (der Siebenschläfertag) und auch die Tag- und Nachtgleiche (Frühlingsanfang) weitere Akzente. Die Kleinen säen am Aschermittwoch Weizen in kleine Töpfe und beobachten während der Fastenzeit, wie sich die grünen Sprossen durch die Erdkrume nach oben schieben: Das Alte stirbt, Neues entsteht. Etwa ab der sechsten Klasse gehört ein anderes Bewusstsein zum Erleben des Jahreslaufes.

Ist das kleine Kind noch ganz in die Rituale eingetaucht und hat die Bilderwelt genossen, so kommt in der Mittelstufe das aktive Verstehen dazu: Was hat das Datum des Osterfestes mit dem Stand des Mondes zu tun? Warum beginnt der Karneval jedes Jahr an einem anderen Datum? Sollen wir uns als Klasse vornehmen, während der Fastenzeit auf etwas Liebgewonnenes zu verzichten?

Von Ostern bis Johanni

Nach Ostern gehen wir mit großen Schritten dem Sommer entgegen, die Natur verändert sich täglich. Die Drittklässler haben im Herbst den Acker durch Pflügen, Düngen und Eggen vorbereitet und Winterweizen gesät oder Kartoffeln gepflanzt, dann in der kalten Jahreszeit immer wieder geschaut, ob und wie sich etwas entwickelt. Jetzt im Frühsommer gilt es, die Feldfrüchte gut zu pflegen. Es müssen Kartoffelkäfer abgelesen, Präparate versprüht und es muss vor allem immer wieder Unkraut gejätet werden. Hier ist das Kind ganz hautnah an den Sprießkräften der Erde und lernt, dass der Mensch sie mit Hand und Verstand bändigen muss, um sie in ihm nützliche Bahnen zu leiten.

Viele fünfte Klassen führen individuelle Baumtagebücher: Jetzt gibt es richtig viel zu beobachten – nicht nur das Wachstum an den Knospen und Blättern, sondern auch das Wiedererwachen der Tierwelt.

In meiner Klasse hatten wir zu dieser Zeit einen Bienenstock im Klassenzimmer: Direkt am Fensterrahmen angebracht, hatten die Tiere einen Ein- und Ausgang und konnten durch Glasscheiben bei der Arbeit betrachtet werden. Mit den Insekten behandelt man natürlich auch die Blumen und Blüten und ab Mai kann man wunderbar draußen sitzen und auf kleinen Zeichenblöcken Pflanzen direkt in der Natur abmalen.

Die Zeit der Ausflüge und Klassenfahrten bricht an: Im Sommer zieht es den Menschen in die Welt und in den Schulen wird diese Tendenz mit dem Lehrplan verheiratet. Die vierte Klasse erforscht in der Heimatkunde das Umfeld der Schule, die fünfte fährt zum ersten Mal gemeinsam durch Deutschland, die sechste kann sich geologische Gesetzmäßigkeiten unter die Wanderstiefel holen und die siebte hat auf dem Schulhof Chemie-Epoche: Verbrennungsvorgänge demonstriert man nicht so gut im Klassenzimmer und außerdem ist überall um uns herum die Wärme das dominierende Element. Schon lange ist mir eine Frage, warum auf Jahreszeitentischen und an Fenstern zu Anfang Juni weiße Tauben hängen, um den heiligen Geist zu symbolisieren – im Pfingstereignis kam er in Flammengestalt!

Die zweite Klasse verlagert sich mehr und mehr nach draußen. Sie hat im beweglichen Klassenzimmer viel Selbstvertrauen im Klettern und Balancieren gewonnen, nun gilt es, die Schulhofbäume zu erobern. Noch besser ist es, wenn da oben Kirschen wachsen – die reifsten gibt es in der Krone! Die wöchentliche Lesestunde, in der sich jedes Kind ein Buch schnappt und beim Lesen hier und da vom Lehrer und helfenden Eltern begleitet wird, findet bei gutem Wetter auch draußen statt – auf schattigen Bänken, an sonnigen Wänden oder auch mal in der Astgabel …

Das Johannifest um die Sommersonnenwende ist in vielen Waldorfschulen ein Höhepunkt für die Schulgemeinschaft. Die Feier beginnt zum Beispiel mit einem abendlichen Picknick, zu dem alle Familien etwas beisteuern und bei dem sie sich klassenübergreifend begegnen. Im Anschluss finden auf der Wiese sommerliche Spiele und Tänze statt.

Die Kleinen wären an jedem anderen Tag schon längst im Bett. Heute aber beginnt erst jetzt das eigentliche Programm: Alle versammeln sich auf dem Schulhof und einzelne Klassen rezitieren Gedichte oder führen Zirkus- kunststücke vor. Dann wird in der Dämmerung eine Geschichte erzählt und so gegen halb zehn begibt sich ein langer Zug von Menschen, von Fackeln geleitet, wieder auf die Wiese, wo die älteste Klasse bereits um den Feuerstoß steht, in die respektvolle Stille hinein einen Spruch rezitiert und dann gemeinsam von allen Seiten das Feuer entzündet. Hell lodern die Flammen auf, mit ihnen erheben sich Klänge von Stimmen und Instrumenten in die Sommernacht und später werden Eltern, Lehrer und die größeren Schüler noch über das verglimmende Feuer springen. Solche Nächte vergisst man nicht!

Nach Mittsommer ist der Alltag der Lehrkräfte – oder zumindest ihre Wochenenden – von einem anderen menschengeschaffenen Rhythmus geprägt – dem der sorgsam und liebevoll verfassten Zeugnisse. Auch dies ist ein immer wiederkehrendes Ritual, mit Leben gefüllt, weil man ja nie dasselbe schreibt. Jedes Kind hat sich im vergangenen Jahr verwandelt und ist sich dennoch treu geblieben.

In den ausklingenden Wochen des Schuljahres gibt es noch viele Gelegenheiten, die Besonderheiten der Jahreszeit zu genießen. Klassen feiern Sommerfeste mit Eltern und Geschwistern – ein großer Garten dafür findet sich sicher in der Gemeinschaft, die durch solche Aktionen bestätigt und gestärkt wird. Mit den Zweitklässlern kann man einen Bachspaziergang machen, wo man buchstäblich im Wasser läuft und den Kontrast zwischen Sommerhitze und kühlem Nass spürt. So neigt sich das Jahr den großen Ferien zu – ob sie uns angesichts der Anforderungen einer sich wandelnden Arbeitswelt wohl noch lange erhalten bleiben? Nun ist es Zeit zum Ausatmen, zum Genießen der Abwesenheit von Plänen und Programmen.

Gegen Ende der Ferien erst werden Kinder und Eltern gleichermaßen ungeduldig: Zeit, dass die Schule wieder losgeht und der Lebensbaum einen neuen Jahresring bekommt!

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.