Das Phlegma des Denkens

Henning Köhler

Rudolf Steiner bezeichnete die materialistische Weltauffassung als »Phlegma« des Denkens und fügte hinzu, im pädagogischen Raum werde sich daraus eine »ungeheure Gleichgültigkeit gegenüber den ... intimeren Seelenregungen des zu erziehenden Menschen« ergeben.

Rund 100 Jahre sind seither vergangen. Der Materialismus hat eine steile Karriere hingelegt. Alles läuft darauf hinaus, »im Menschen das Bewusstsein seiner Geistigkeit zu ertöten« (Steiner). Die Leugnung autonomer Subjektivität oder personaler Identität gilt als unumgängliche Konsequenz illusionslosen Denkens. Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio Damasio schreibt, der Eindruck, wir seien mehr als nur Materie, resultiere aus »irreführenden Intuitionen« des Gehirns. Hirnzellen haben Intuitionen, allerdings falsche. Und sie bemerken den Fehler. – Mit solchen Geschichten soll man sich zufrieden geben?

Es ist mächtig in Mode gekommen, die geistig-seelische Individualität als überholtes Konstrukt abzutun. Über die Konsequenzen wird wenig diskutiert. »Geist und Seele sind keine irreduziblen Bestandteile der Wirklichkeit«, verkündet der Philosoph Thomas Metzinger unter tosendem Beifall. Damasio und Metzinger sind brillante Köpfe. Die Sache wäre ja nicht der Rede wert, wenn nur Dummköpfe sich ihr verschrieben hätten.

Im pädagogischen Raum erzeugt dieser physiologische Reduktionismus tatsächlich jene von Steiner charakterisierte Gleichgültigkeit. Niemand entbrennt in Liebe zu Genen. Niemandem ist die Freiheit von Hirnzellen heilig. »Beobachten Sie einmal«, sagte Steiner, »welchen Unterschied es macht, wenn Sie an das Kind mehr oder weniger gleichgültig herantreten oder wenn Sie an das Kind herantreten mit wirklicher Liebe. Wenn man mit wirklicher Liebe an das Kind herangetreten ist, wenn der Glaube aufhört, dass man mit technischen Kunstgriffen mehr machen könne als mit wirklicher Liebe, ist sofort die Wirksamkeit in der Erziehung da.« Besonders im Umgang mit Seelenpflege-bedürftigen Kindern sei darauf zu achten.

Das »Phlegma« dieses Denkens führt zu einer Wahrnehmungsschwäche der höheren (sozialen) Sinne, besonders des Ich-Sinnes. Durch den Ich-Sinn sind wir unmittelbar auffassungsfähig für die geistige Individualität – das höhere Ich – eines anderen Menschen. Ohne diesen Ich-Sinn ist man außerstande, ein Kind »zu erfassen als Bild, das sich aus der geistigen Welt heraus offenbart«, und bleibt bei der äußeren Betrachtung stehen. Nur ein in »wirkliche Liebe« getauchtes Interesse ermöglicht Wesensbegegnung und darf nicht verwechselt werden mit dem ausforschenden Beobachten, auf das man sich heute so viel zu Gute hält.

Wie schnell landet man gegenüber auffälligen Kindern bei dem verführerisch einfachen Gedanken, ihre Probleme hätten neurologische Ursachen, deshalb sei da mit Liebe nichts mehr zu machen, wohl aber vielleicht mit irgendwelchen »technischen Kunstgriffen«. So spricht der verinnerlichte Materialismus. Erstens belügt er uns, zweitens werden wir durch ihn träge und gleichgültig.

Literatur:

Rudolf Steiner:  Der Tod als Lebenswandlung, GA 182; Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch, München 2011; Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel, Berlin 2009