Der Zwanzig-Minuten-Effekt

Henning Köhler

Lukas hat die Angewohnheit, mitten im Unterricht aufzuspringen und herumzulaufen. Im ersten Schuljahr wurde nicht viel Aufhebens darum gemacht. Man dachte, es würde sich geben. Jetzt ist Lukas Zweitklässler. Es hat sich nicht gegeben. Die Klassenlehrerin ruft häufig bei den Eltern an, weil sie sich nicht mehr zu helfen weiß. »Er hält maximal 20 Minuten durch, dann wird er unruhig. Ich musste ihn schon mehrmals rausschicken.« Nun hatten aber noch einige andere Kinder dasselbe Problem und mussten ebenfalls ständig rausgeschickt werden. Wie man sich denken kann, ging das nicht gut. Sie tobten im Schulhaus herum, statt vor der Tür zu warten und sich still zu schämen.

Schließlich kam das Thema bei einem Elternabend zur Sprache. Namen wurden nicht genannt, aber alle wussten Bescheid. Ein Vater sagte: »Unsere Kinder sind hier, um zu lernen. Für Störenfriede gibt es spezielle Schulen.« Die Lehrerin bekannte, sie sei am Ende ihrer Kräfte.

Irgendwann tauchte Lukas in meiner Sprechstunde auf. Ich sollte eine Diagnose stellen. Aber Lukas war gesund. Was bei ihm vorlag, kannte ich zur Genüge. Nennen wir es den Zwanzig-Minuten-Effekt.

Bis zum neunten, zehnten Lebensjahr liegt bei hoher Aufmerksamkeitsbeanspruchung die Belastungsgrenze bei etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten. Dann wird es den Kindern zu viel. Um sich selbst wieder richtig zu spüren, müssen sie Abstand finden von dem, was ihre Aufmerksamkeit bindet. Es ist ein unbewusster Vorgang. Manche Kinder beherrschen das Wechselspiel zwischen Öffnung und Distanz mit sieben, acht Jahren schon recht souverän. Sie gehen nicht bis zur Belastungsgrenze, sondern schalten alle paar Minuten intuitiv auf Desinteresse um. Der Lehrer bemerkt es kaum. Andere sind in diesem Alter noch nicht so weit. Öffnen sie sich, dann rückhaltlos. Nach etwa einer Viertelstunde Minuten stellt sich ein leises Panikgefühl ein, das rasch anschwillt, wenn weiterhin Aufmerksamkeit gefordert wird. Die Rettung wäre jetzt, sich bewegen zu dürfen. Aber das ist untersagt. Viele betroffene Kinder gehen nach einiger Zeit dazu über, Situationen, die auf besagten Überforderungszustand hinauslaufen könnten, von vorn herein zu meiden. Daraus kann ein lange nachwirkendes Problem werden.

Kinder wie Lukas zeigen offen, was andere still erdulden, vielleicht bis zum Ausbruch einer Schulphobie. Manche wagen es nicht, einfach herumzulaufen, wenn der kritische Punkt erreicht ist, sondern überlassen sich resigniert dem – oft mit Übelkeit und Schwäche einhergehenden – Unwirklichkeitsgefühl, das sich nun einstellt.

Lukas muss wohl die Schule verlassen. Vielleicht bringen wir ihn in einer freien aktiven Schule unter. Denn dieses Schulkonzept ermöglicht es den Kindern, sich zu bewegen oder zurückzuziehen, wann immer sie wollen.

Was könnte an Waldorfschulen getan werden, um Kinder wie Lukas zu halten? Wer hat Ideen? Liegen Erfahrungen vor? – Eine Anfrage.